Schrecken und Schönheit
„Die See ist das Leben und der Tod.“ Wie wahr: Das Meer birgt Schrecken und Gefahren, zieht uns gleichwohl in seinen Bann, mit dieser unendlichen Weite, dem magischen Blau, dem nie enden wollenden Spiel der Wellen. Die Anrainer der Ozeane wissen das: Der eingangs zitierte Aphorismus stammt aus dem Jemen. Und manche mutige Seefahrer haben es zu allen Zeiten erfahren müssen, wie pures ästhetisches Empfinden und blankes Grauen Hand in Hand gehen. Das ist der Stoff, dem (Alb)-Träume erwachsen, von dem Schriftsteller, Komponisten oder Filmemacher bis heute zehren.
Nun hat sich die Ruhrtriennale dieser faszinierenden Melange aus Schönheit und Horror angenommen, mit der Aufführung von Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa. Das eigentlich nur wenige szenische Anweisungen enthält, das aber in Bochums Jahrhunderthalle als „Konzert-Installation“ daherkommt, eingerichtet vom Produktionsteam des ungarischen Proton Theaters unter Leitung des Regisseurs Kornél Mundruczó. Es ist eine teils von lichtem Glanz beherrschte, dann wieder dräuend unheimliche Inszenierung, in sich geschlossen, überwiegend wirkungsvoll.
Henzes Werk, das er selbst eine „erzählerische Kantate“ nannte, beruht auf einer wahren Begebenheit des Jahres 1816. Vier französische Schiffe nahmen Kurs auf Senegal, um das Land zu kolonisieren. Die „Medusa“ verhakte sich auf einem Riff und war nicht mehr freizubekommen. Offiziere und diverse hochgestellte Gäste brachten sich in den Beibooten in Sicherheit, der Mannschaft blieb ein Floß, das zunächst von den Booten geschleppt, dann aber sich selbst überlassen wurde. So trieben diese Verstoßenen schwarze Nächte und gleißend helle Tage lang auf dem Meer. Die allermeisten dieser „Allzuvielen“ starben.
Unter den Geretteten befanden sich der Arzt J. B. Heinrich Savigny und der Ingenieur Alexander Corréard, die einen „vollständigen Bericht“ über die Geschehnisse veröffentlichten, der alsbald auch in deutscher Sprache erschien. Dieses Dokument des Elends hat später, nach jahrelangen Vorarbeiten, Henzes Librettist Ernst Schnabel in beklemmende Textform gegossen. Der Komponist hat dazu eine sirenenhaft narkotisierende wie brachialgewaltige Musik notiert.
Schönheit und Schrecken, wohin der Blick auch schweift, wohin sich das Ohr auch richtet. Zu Beginn begegnet uns das ikonenhafte „Floß“-Gemälde Théodore Géricaults, schaurig ob seiner düsteren Wolkenklüfte, des wilden Wellenturms, ob der ausgemergelten Noch-Lebenden. Ästhetisch zugleich wegen der gekonnt gestalteten Proportionen - die Menschenleiber zu einer Pyramide geformt, unten die Toten, Halluzinierenden, Hoffnungslosen, oben aufgeregt Winkende, die offenbar ein rettendes Schiff gesichtet haben.
Dann weicht das projizierte Bild, macht Platz für eine tief gestaffelte Bühne, auf der links die oft kammermusikalisch behandelten Streicher sitzen, inmitten das machtvolle Schlagwerk, rechts Holz- und Blechbläser. Dahinter drei Gruppen von Chören - alles fein symmetrisch austariert. Ganz vorn hat Ausstatter Márton Ágh einen feinen, idyllisch wirkenden Sandstreifen eingezogen, der sich indes während des 70 Minuten dauernden Werks zum Seegrab mit Skeletten wandelt. Gewissermaßen parallel dazu wird an der hinteren Bühnenwand eine schmale Projektionsfläche sichtbar, die uns das üppige Blau des Ozeans offenbart, bisweilen aber durchzogen vom stillen Gleiten der Haie. Blaue Lichtspiegelungen gar fluten die Bühne, während Text und Musik von der Panik der Seeleute und den Lockrufen des Todes künden.
Der Tod tritt auf in Gestalt der Sopranistin Marisol Montalvo, die Intendant John Dew einst nach Dortmund holte. Inzwischen singt sie an vielen großen Häusern, spezialisiert auf neue Musik. Matthias Pintscher oder Wolfgang Rihm schufen eigens Rollen für die Amerikanerin. Als Lulu (Alban Berg) sorgte sie für Aufsehen, und der gewaltige Umfang ihrer Stimme, die Reinheit der hohen Lage, die satte Tiefe garantieren auch in Henzes Oratorium einen wirkungsvollen Auftritt.
Der Bariton Holger Falk wiederum, der als Jean Charles vor allem Befindlichkeiten der Menschen auf dem Floß schildert, pflegt den Leidenston von Bergs Wozzeck. Henze greift im Floß der Medusa auf die Zwölftontechnik zurück, orientiert sich aber auch an Bachs Choralschaffen und bisweilen an Klangflächen der Renaissance. Hinzu kommen gewaltige Orchestereruptionen, das Schreien, Singen, Flüstern und rhythmische Reden der Chöre, sowie die messerscharfe Diktion des Sprechers Tilo Werner, der den Fortgang der Handlung schildert und zugleich als Charon auftritt, der mythologische Fährmann der Toten.
Hinreißend, oft mit mächtigem Furor präsentieren sich das Chorwerk Ruhr, die Zürcher Sing-Akademie sowie die Knaben der Chorakademie Dortmund. Und die Bochumer Symphoniker unter Steven Sloanes Leitung setzen eindrucksvoll irisierende Klangflächen gegen bruitistische Entladungen. Das Orchester ist wohl derzeit in der Region die erste Adresse in Sachen „Neue Musik“.
Henzes Floß der Medusa konnte in der aufgeladenen Atmosphäre der 1968er Bewegung nicht uraufgeführt werden. Es gab Proteste, Rangeleien, einen Polizeieinsatz, entzündet nicht zuletzt an einer roten Fahne auf der Bühne. Und heute? Die Parallelen zu den Flüchtlingsschicksalen des 21. Jahrhunderts sind evident. Regisseur Mundruczó belässt es bei einer sanften Aktualisierung. Zeigt fremde Menschen, die angstvoll dreinblicken oder ihre Hände vors Gesicht legen. Dann aber wirbeln diese Köpfe per Projektion über die ganze Bühne, eingefasst in faszinierende Lichtreflexe. Schrecken und Schönheit auch hier.