Carmen im Essen, Aalto-Theater

Eine Carmen zum Gott Erbarmen

Unter Sébastien Rouland (ab dieser Spielzeit GMD in Saarbrücken) spielen die Essener Philharmoniker das Carmen-Vorspiel mit Rasanz, Messerschärfe und enormem Klangfeuer. Kritisch sind freilich immer wieder die Tempi des Dirigenten. Das Lodernde des Beginns ist sicher nicht überall so brioscharf durchführbar. Aber die Gangart des Musizierens wirkt (ungeachtet einiger gezielter Verlangsamungen und Ritardandi) immer wieder leicht gebremst. Nicht, dass geschleppt würde, doch empfindet man einen gewissen Mangel an konsequentem Drive. Das Schmuggler-Quintett lief in der Premiere nicht von ungefähr aus dem Ruder. Doch wie auch immer: das Orchester ist Spitze.

Bei den Sängern überzeugt am stärksten der Kanadier Luc Robert in seiner schon an vielen Bühnen verkörperten Rolle des Don José: strahlender, höhenpotenter Tenor, differenziert im Dynamischen. Bettina Ranch wirft sich voll auf die Carmen-Partie, singt mit beeindruckender Hingabe. Das Vulkanische, abgründig Erotische ist ihrer Stimme etwas fremd, aber das mag auch durch die Führung durch die Regie bedingt sein. Der Escamillo des Litauers Almas Svilpa, langjähriges Essener Ensemblemitglied, gibt in punkto Temperament mehr her. So kraftvoll wie seine Statur ist auch sein Gesang, richtig für den Stierkämpfer-Macho. Berührend die Micaela von Jessica Muirhead, deren Sopran leuchtet und lyrisch fließt; dezidiert Mädchenhaftes mag man hin und wieder vermissen. Die restlichen Sänger überzeugen ausnahmslos: Christina Clark (Frasquita), Liliana De Sousa (Mercédès), Rainer Maria Röhr (Remendado), Albrecht Kludszuweit (Dancairo), Martijn Cornet (Moralès) und Karel Martin Ludvik (Zuniga). Nicht zu vergessen der von Jens Bingert blendend einstudierte Chor.

Ja, und nun würde der Aufführungsbericht über die Essener Carmen eigentlich lieber abgeschlossen werden. Aber das ist natürlich nicht möglich. Kommen wir also mit totaler innerer Abwehr auf das zu sprechen, was sich auf der Bühne tut. Die Szene bietet öde Leere. Lediglich ein kreisrunder Boden, der - hydraulisch angehoben - das vordere Segment manchmal abhängen lässt, als wäre er eine schlappe Pizza. Die Maschinerie bekommt auch sonst Einiges zu tun, ohne dass dies gravierende und sinnstiftende Wirkungen nach sich zöge. Bedeutungsschwanger spielt das Licht mit.

Die ganze visuelle Aussagelosigkeit korrespondiert mit der eigentlichen Inszenierung. Nicht sämtliche wunderlichen Details sollen beschrieben werden. Nur so viel: es scheint, als ziele die Regie auf Teufel komm raus darauf ab, eine realistische, dramatisch pulsierende Darstellung der Opernhandlung zu unterlaufen. Die Inszenierung wirkt wie ein Schachspiel, auf welchem die Figuren nach intellektuellem Gusto hin- und hergeschoben werden. Der Chor nimmt meistens eine Habt-Acht-Stellung ein oder umstellt kreisrund die Bühne, fuchtelt dabei zeitweilig wild mit den Armen. Vieles passiert auch plakativ an der Rampe.

Zwei Kinderlein, unterschiedlich kostümiert (mal als Nachwuchs-Toreadors, mal als Micaela und José, wenn es richtig gedeutet wird) mischen sich immer wieder symbolhaft in die Handlung ein, „arrangieren“ sogar die Posen von José und Carmen beim finalen Mord. Josés Duett mit Micaela gerät zu einem Picknick auf mitgebrachtem weißen Laken und wird garniert mit einer Gruppe von Frauen und Kindern, Anspielung auf die arme Mutter in weiter Ferne. Die Gruppe taucht nochmals warnend auf, wenn Carmen José zu einem Leben in Freiheit zu gewinnen versucht. Die Dialoge kommen aus Lautsprechern, von unbedarften Kinderstimmen gesprochen. All diese Fatalitäten bedachte das der Regel eher moderate Essener Publikum mit heftig crescendierendem Protest.

 

Die Namen der Verantwortlichen sind nachzutragen: Lotte De Beer (Regie), Clement & Sanou (Bühne und Kostüme), Alex Brok (Licht).

Mit einer eigenen Compagnie Opera front will die niederländische Regisseurin laut Programmheft übrigens „eine neue Generation von Opernbesuchern erreichen und das Genre Oper für die Zukunft bereitmachen.“ Na denn: Glück auf.