Ein Tyrann zerstört seine Familie
Wovor haben Mächtige und Herrscher am meisten Angst? Ganz einfach: vor Herrschafts- und Machtverlust. Das war vor vier-, drei-, zweitausend Jahren nicht anders als im Jahre 2018, ist wohl so etwas wie eine anthropologische Grundkonstante. Und wie lässt sich Machtverlust verhindern? Ganz einfach: mit Gewalt. Ob erfolgreich oder nicht, lässt sich nur im Einzelfall sagen. Im Falle von Saul, des mächtigen Königs der Israeliten (wir schreiben das Jahr 1004 vor Christus) geht die Taktik nicht auf, die Gefahr des Machtverlustes durch gezielten Mord zu bannen. Davon erzählt das Alte Testament. Von König Saul und David, der den berühmten Kampf gegen Goliath für sich hat entscheiden können. Das Volk liegt ihm aus diesem Grund zu Füßen - was Sauls Argwohn und vor allem Eifersucht weckt. Er will David, seinen Rivalen, liquidieren und schreckt dabei nicht davor zurück, seine Kinder zu instrumentalisieren.
Stark gekürzt wurde Georg Friedrich Händels Oratorium Saul, das Dirigent Michael Hofstetter und Regisseurin Susanne Knapp als „szenisches Oratorium“ auf die Bühne des Theaters Münster bringen. Andernorts schon gern einmal in eine Oper mit durchgängiger Handlung verwandelt, werden hier Arien und Rezitative bebildert.
Sauls Thron beherrscht die Szene. Hoch ist er, nach oben spitz zulaufend. Christoper Melching baut ihn quasi in den Himmel ragend. In der Mitte sitzt Saul majestätisch über seinem Volk, aber auch so weit entrückt, dass er die Stimmung „unten“ nicht mehr wirklich wahrnimmt. Eigentlich eine hochaktuelle politische Gemengelage.
Doch Susanne Knapp wählt einen anderen Schwerpunkt für „ihren“ Saul. Sie nimmt die „Familie Saul“ in den Fokus; schaut die Menschen der „Familie Saul“ an. Dabei gelingen ihr manch‘ schöne Bilder. Eine betörend fein gezeichnete Liebesszene zwischen David und Sauls Sohn Jonathan etwa. Dessen Schwester Michal wird gezeigt als zierliches Persönchen unter dem monströsen Thron auf dem ihr Vater sitzt. Und lehnt sich dennoch gegen ihn auf. Das sind sehr stimmige Momente. Weniger Fortune hat Knapp bei der Gestaltung einiger Chorszenen. Da setzt sie bisweilen zu sehr auf bloße Effekte, die leer verpuffen. Doch am Schluss noch ein Menetekel: David lümmelt sich wie ein verzogenes Blag auf Sauls Thron. Man ahnt es schon: die Zukunft verheißt nichts Gutes.
Kathrin Filip als Sauls Tochter Merab bringt auch stimmlich hart ihre Empörung darüber zum Ausdruck, einen Emporkömmling heiraten zu sollen. Umso zarter und feiner spinnt Marielle Murphy als ihre Schwester Michal die Fäden ihrer erwachenden Liebe zu David. Diese Liebe verströmt Youn-Seong Kims Jonathan sanft, hingebend und sehr berührend.
Michael Taylors Rollenportrait des David leidet unter anfänglichen Intonationstrübungen. So kann er erst spät seinen hellen, absolut beweglichen Countertenor voll zur Geltung bringen. Gregor Dalal in der Titelrolle schafft es, Hybris und Wahnsinn eines Tyrannen darstellerisch erfahrbar zu machen. Feinzeichnender Barockgesang ist seine Sache dagegen nicht.
Die herausragende Rolle aber in diesem Saul spielt ganz klar das Sinfonieorchester Münster unter Michael Hofstetter. Der hat sich zur Unterstützung einige „Barockspezialisten“ ins Boot geholt. Und allen gemeinsam glückt eine von vorn bis hinten stimmige Interpretation des Saul: Zügige Tempi werden gewählt, triumphale Bläserklänge erschallen aus dem Graben. Barock, wie man ihn erwartet. Doch Hofstetter gelingt es in jeder Phase auch, neben einem farbigen Klangteppich nuanciert ein breit gefächertes Stimmungs- und Gefühlsspektrums erfahrbar zu machen. Es ist eine ganz feine Klinge, die das Sinfonieorchester Münster da führt und damit zum wiederholten Male seine Affinität zur Musik des Barock beweist. Eine ausgezeichnete Leistung, die mit viel Beifall belohnt wird.