West Side Story im Dortmund, Oper

Zwei Gangs im Krieg miteinander

Ein Augenschmaus - ganz eindeutig. Denn der Tanz ist die beherrschende Komponente der Inszenierung von Leonard Bernsteins West Side Story. Und viel Platz für Bewegung bietet die XL-Bühne schließlich auch. Regisseur Gil Mehmert hat nicht nur genug Raum, sondern auch eine Menge an Personal, um richtig aus dem Vollen schöpfen zu können. Es ist eine beeindruckende Zahl von Darstellern, die die Bühne „bevölkern“. Und tanzen können sie, die Jungs und Mädels! Dieses Potenzial nutzt Choreograf Jonathan Huor, um turbulente Szenen zu kreieren. Dabei kommt es ihm vor allen auf den Gesamteindruck an, die große, einheitliche Optik - weniger auf Individualität der Figuren. Es entstehen opulente Bilder, die ihre Wirkung beim Publikum nicht verfehlen, sondern mit- und einnehmen. Huor setzt voll auf Effekte, weniger auf Originalität und erzielt damit die maximale Wirkung.
Gil Mehmert inzenierte die West Side Story bereits für die Magdeburger Domfestspiele 2017. Dorther stammt auch Jens Kilians Bühnenbild, das nicht überraschend eine New Yorker Straße der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts abbildet. Eine nette Idee ist das Polizeiauto, das auf der Bühne herumkurvt und für zusätzliche Bewegung sorgt.

Mehmert streicht kohärent mit Huors Choreografie die Bedeutung des Kollektivs für Heranwachsende heraus, seinen Einfluss auf die Herausbildung einer Persönlichkeit. So ist es konsequent, dass er den Romeo-und-Julia-Plot eher im Konflikt der Gangs ansiedelt und weniger in der individuellen Situation und Entwicklung von Maria und Tony.

Musikalisch lebt diese West Side Story von den Ensembles. Da klappt wirklich alles. Wenn die Sharks und die Jets aufeinander treffen vibriert die Bühne und die Konflikte schwappen direkt ins Publikum. Unter den Solisten weiß vor allem Dorina Garuci als Anita zu überzeugen, ihre Emotionen von Lebenslust bis Todesangst perfekt zu transportieren. Anton Zetterholm als Tony singt brav und manierlich und ist eher der Schwiegermuttertraum und weniger ein rebellischer, verzweifelter Jugendlicher. Iréna Flurys Maria kämpft am Premierenabend mit einigen Intonationsproblemen - hoffentlich Folgen der Nervosität und nicht technischer Natur. Außerdem sind ihre Sprechtexte nicht zu verstehen. Maria und Tony - beide vermitteln vor allem die Unsicherheit Heranwachsender.

Philipp Armburster liefert mit den Dortmunder Philharmonikern eine sehr geschliffene Version der so großartigen Musik Leonard Bernsteins. Da fehlt es schlicht an etwas Pointiertheit, einer Portion Pfeffer. Kurz: es dürfte ein wenig mehr „dirty“ sein.

Großartige Massenszenen und ein sehr gut aufgelegtes tanzendes und singendes Ensemble bilden die Grundlage für den ohne Hellsehergabe vorauszusagenden grandiosen Erfolg dieser West Side Story.

Und gerade da dieser Erfolg völlig außer Frage steht, darf auch mal ein wenig Wasser in den Wein gegossen werden. In Bernsteins Meisterwerk liegen aktuelle Fragestellungen geradezu an der Oberfläche. Niemand muss wirklich tief „buddeln“, um darauf zu stoßen. Migration und Fremdsein in einem Land als Thema sind so offensichtlich. Und Regisseur Gil Mehmert attestiert dem Stück, dass es „den Spagat schafft zwischen einer gesellschaftlich relevanten, substanziellen Geschichte und einer hochkünstlerischen Nutzung der Möglichkeiten des Genres.“ Warum wird dann die gesellschaftliche Relevanz nicht angepackt? Muss ein Musical clean sein? Für die heile Welt haben wir doch all‘ die „Musical-Tempel“ samt All-Inclusive-Reise.