Übrigens …

Roméo et Juliette im Aachen, Theater

Gelungenes Plädoyer für eine vernachlässigte Oper

Die Opern von Charles Gounod erscheinen nicht eben häufig auf den Spielplänen der Theater, insofern sind die Aufführungen von Mireille in Bremerhaven (2000), La nonne saglante (Osnabrück 2008) oder auch Cinq-mars in Leipzig (2017) erwähnenswert. Romeó et Juliette erfuhr im deutschsprachigen Raum wenigstens in jüngerer Zeit einige Produktionen, so an den Häusern von Schwerin (2008), Münster (2012) sowie Kassel und Erfurt (2017).

Die Aachener Inszenierung ist ein neuerliches Plädoyer für ein starkes Werk, melodiös gesättigt, harmonisch überschwänglich. Der primären Gesangsoper eignet fraglos ein leicht retrospektiver Charakter, welchen man szenisch nicht simpel historisierend bestätigen sollte (das Prokofjew-Ballett wird immer noch zur Genüge mit Spitzentanz gegeben). Die Aachener Regisseurin Ewa Teilmans trägt dieser Überlegung Rechnung, ohne freilich vordergründige Modernismen zu benutzen. Dass sie die Handlung im Heute verortet, was vor allem Andreas Beckers Kostüme deutlich machen, ist im Grunde nicht überraschend. Lediglich beim Capulet-Fest zu Beginn der Oper gibt es historische Gewandungen zu sehen, was aber nur handlungslogisch ist. Das Bühnenbild von Elisabeth Pedross zeigt dann aber doch ein wie aus alter Zeit stammendes Gemäuer, per Drehbühne von allen Seiten einsehbar. Man spürt noch ein wenig den Geist der Vergangenheit. Insgesamt besitzt die Bebilderung starkes Flair.

Im musikalischen Vorspiel läßt die Regisseurin vehement Kämpfe zwischen Jugendlichen der verfeindeten Capulets und Montagues ablaufen, welche nicht von ungefähr denen der Jets und Sharks in Leonard Bernsteins stoffverwandter West Side Story ähneln. Das Ganze ist vielleicht ein wenig langgezogen, ebenso die Choreographie für das überschäumende Capulet-Fest. Und daß Juliettes „Je veux vivre“ mit Ensembleaktionen angereichert ist, wirkt auch etwas „gewollt“.

In toto jedoch bietet die realitätsnahe Regie eine plausible und handlungskonforme Erzählung, wobei das eindrucksvolle Bühnenbild mit seinen diversen Spielebenen die Lebendigkeit der Bühnenvorgänge außerordentlich begünstigt. Hier und wieder gibt es einen gezielten Bewegungsstillstand des (von Jori Klomp bestens einstudierten) Chores, ein optischer Kniff, der sich kürzlich auch beim Kölner Peter Grimes bewährte. Umso wilder dann die neuerlichen Kampfszenen im 3. Akt, bei denen sich Fabio Lesuisse (Mercutio) und vor allem der unglaublich sportive Soon-Wook Ka (Tybalt) als atemberaubende Bühnenakteure erweisen.

Mit den stärksten Eindruck bietet Ewa Teilmans‘ Inszenierung im 4. Akt mit der Schilderung von Juliettes und Roméos Brautnacht. Über einer Wand links hängt ein riesiges weißes Tuch, welches von darunter verborgenen Statisten (?) langsam über die Bühne gezogen wird und als Synonym für das Bett(laken) steht. Die Liebenden begegnen sich zunächst sehr körperintensiv, weichen dann aber voreinander zurück. Anschließend entkleiden sie sich bis auf das Notdürftigste, was sich sowohl Larisa Akbari wie auch Alexey Sayapin ohne jegliche Peinlichkeit leisten können. Dann legen sie sich auf den Boden und rollen, das Laken von beiden Seiten her um sich schlingend, aufeinander zu. Das wirkt, wie auch das folgende intime Miteinander, ebenso erotisch wie keusch. Selten wirkte eine Liebesszene derart eindringlich, natürlich auch dank des intensiven Spiels der Protagonisten.

Bei den Stimmen mag man ein Quäntchen lyrischen Schmelz vermissen. Dem Sopran von Larisa Akbari eignet eine leichte Schärfe, besonders in der (sicheren) Höhe. Aber dieser Eindruck verliert sich immer wieder angesichts der vokal brillianten Darbietung. Alexey Sayapins Tenor ist in letzter Zeit ausladender und dramatischer geworden. Das läßt sich u.a. an Youtube-Mitschnitten überprüfen, etwa Pinkterons „Addio fiorito asil“ in einer Butterfly-Aufführung 2011 an der Wichita Grand Opera (Kansas). Aber Sayapin singt nach wie vor geschmeidig und ist wie seine Partnerin ausgesprochen konditionsstark in der Höhe.

Pater Lorenzo, im Personarium auch als „Einsiedler“ geführt und für sein christliches Amt immer wieder neu eingekleidet, gewinnt durch Woong-Jo Chois voluminösen Baß starke Autorität, Fanny Lustaud entzückt als Roméos Page Stephano. Als Amme Gertrud sprang kurzfristig Ariana Lucas (Karlsruhe) ein und erfreute mit einer runden Darbietung. Dem Grafen Capulet gibt Pawel Lawreszuk, vokal mitunter freilich etwas angestrengt, angemessene Rollenkontur. In kleineren Partien: Andranik Fatalyan (Graf Paris), Stefan Hagendorn (Gregorio), Takahiro Namiki (Benvolio), Johannes Piorek (Bruder Jean) und Vasilis Tsanaktidis (Herzog von Verona).

Enormen Eindruck macht der neue Aachener GMD Christopher Ward, zuvor in Saarbrücken tätig. Er hatte bereits das (leider nicht erlebte) Dirigat von Verdis Forza del destino inne und wird als nächste Bühnenproduktion einen Doppelabend mit Bernsteins Trouble in Tahiti und A quiet place betreuen. Über seine lokalen Konzerte hört man Vorteilhaftes. Bei der Gounod-Oper lässt er das Sinfonieorchester Aachen über sich hinauswachsen. Elegische Lyrik, kapriziöse Leichtigkeit und dramatische Energien bündeln sich zu einem bestrickenden Klangpanorama. Das Aachener Premierenpublikum, welches bereits zwischendurch enthusiastisch reagierte, war am Schluss schier aus dem Häuschen. Ein großer, denkwürdiger Abend, welcher hoffentlich auch einer intensiveren Verbreitung des Werkes zugute kommt.