Was der Krieg anrichtet
Wir scheinen da zu sein, wo von Webers Freischütz hingehört: in einem Dorf in der Mitte des 17. Jahrhunderts nach Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Menschen freuen sich des Friedens und üben sich in Vorkriegsbräuchen und -ritualen, die ihnen Sicherheit und Normalität garantieren. Doch diese Garantie ist brüchig und eigentlich nur vorgegaukelt. Denn unter der Oberfläche brodeln Neurosen und Kriegstraumata. Jeder Dorfbewohner trägt sie mit sich herum.
Tatjana Gürbaca zeigt mit dem Freischütz Wunden auf, die Krieg erzeugt in Menschen. Sie tut dies, indem sie das Webersche Dorf Epochen durchschreiten lässt und alptraumhaft erfahrbar macht, was Krieg in letzter Konsequenz anrichtet mit Menschen - wie er sie deformiert. Es sind nicht so sehr die physischen Schäden. Gürbaca visualisiert einen Höllentrip durch das menschliche Hirn. Das ist extrem anstrengend und unangenehm. Ihre Bilder nämlich lassen an Drastizität nichts zu wünschen übrig, greifen an und nehmen mit. Und sie zwingen zur Auseinandersetzung.
Zumal Gürbaca gerade auch an den handelnden Figuren verschiedene Bewältigungsstrukturen offenlegt. Jede von ihnen hat sich alle Strategien zurecht gelegt, um mit Kriegserfahrungen umzugehen. Ännchen diskutiert das Ganze einfach weg. Sie will die Vergangenheit beiseite schieben und resolut neu anfangen. Das gelingt ihr aber nur bedingt. Max ist absolut unsicher, kann sich mit der Nachkriegsrealität nur sehr schwer abfinden und streift eher somnambul „durch die Wälder, durch die Auen“. Er zerbricht fast an der Tatsache, dass er betrügen muss, um das Leben führen zu können, das er sich wünscht. Agathe ist zerrissen zwischen zwei Welten. Da ist Max, der scheinbare Unbeschwertheit verspricht, da ist aber auch Kaspar, die Vergangenheit. Die hat ihren Reiz noch nicht verloren. Mit einer angedeuteten Dreiecksbeziehung erweitert Gürbaca die Figurenkonstellation des Freischütz um eine weitere reizvolle denkbare Möglichkeit.
Den Kaspar stellt die Regisseurin in den Mittelpunkt ihrer Inszenierung. An ihm demonstriert sie, was Krieg mit einem Mann anrichten kann. Folgerichtig wird die Wolfsschluchtszene zum Menetekel. Kaspar erlebt in einer Wiederholungsschleife Szenen aus „seinem“ Krieg. Die Freikugeln holt er blutbeschmiert aus Max heraus, denn es ist der Mensch, der aus sich Unrecht und Gewalt generiert. Das ist eine ganz starke Szene.
Mit Klaus Grünberg ist ein kongenialer Bühnenbildner mit an Bord, der Häusersilhouetten entwirft, die auch als Schiefertafeln dienen und anklagende Zeichen „in Stein meißeln“ können. Silke Willreit unterstützt Gürbacas zeitlose Anklage gegen den Krieg durch eine gelungene Wanderung der Kostüme durch die Epochen bis hin zur Zeitlosigkeit.
Tomás Netopil sezierte mit den Essener Philharmonikern den Freischütz, macht ihn frei von allzu viel Lokalkolorit. Nicht immer gelang die Koordination zwischen Graben und Bühne perfekt. Vor allem Jens Bingerts Chor hätte das ein oder andere Mal ein wenig mehr ins Orchester lauschen sollen, denn vom Dirigenten kamen keine wesentlichen ordnenden Impulse.
Baurzhan Anderzhanov als Eremit ist pflichtschuldigst sonor und ehrgebietend, Karel Martin Ludvik ein Erbförster wie er sein soll. Martijn Cornet als Fürst wagt ein flottes Tänzchen mit Ännchen und hinter der Bühne wohl gar noch mehr.
Maximilian Schmitt meistert seinen Max, strahlt bisweilen. Er bleibt nur über längere Strecken hinweg eng und leicht nasal in der Stimmgebung. Auch Jessica Muirheads Agathe lässt es ein wenig an Stimmfülle vermissen. Heiko Trinsingers Bariton hat alles, was von Nöten ist, um den Kaspar zu gestalten. Und er legt vieles hinein in diese Rolle, bleibt aber die letztliche Zerrissenheit des Charakters schuldig.
Die Entdeckung dieser Premiere aber ist Tamara Banjesevic als Ännchen. Konsequent sicher von der höchsten Höhe bis in tiefe Lagen fordert sie Aufmerksamkeit. Und die zollt ihr jeder.
Tatjana Gürbaca liefert einen Freischütz, der vom Publikum nur eines will: Bitte diskutiert! Das geschieht unmittelbar während und nach der Premiere. Und so erinnern auch die zu erwartenden Reaktionen des Publikums - von Jubel bis zu Buhrufen - an allerbeste Aalto-Zeiten.