Vom hohen Preis der schönsten Perlen
Die Illusion ist nahezu perfekt. Ein Mann taucht kopfüber in die Tiefe, strebt mit langsamen Schwimmbewegungen dem Grund zu. Licht fällt von oben auf ihn herab. Aber wir sehen seine Gestalt nur unscharf, als befänden wir uns gleichfalls unter Wasser, auf der Jagd nach kostbaren Perlaustern im indischen Ozean.
In Wahrheit sitzen wir im Parkett des Gelsenkirchener Musiktheaters, wo ein angeseilter Statist mit dem Kopf voran vom Schnürboden herabgelassen wird. Unten angekommen, wird er keine farbenprächtigen Korallen vorfinden, sondern lediglich den nackten Bühnenboden. Wir sehen einen großen Plastikvorhang und verstehen, dass er die Ursache für die vermeintliche Trübung der Sicht ist. Aber der Zauber der Täuschung ist unwiderstehlich. Keine Fernsehdokumentation, kein noch so aufwendiger Kinofilm könnte unsere Fantasie derart beflügeln, uns in Sekundenschnelle in eine andere Welt versetzen. Es ist einer dieser magischen Momente, wie man sie nur im Theater erlebt.
Reisen wir also gedanklich nach Ceylon, heute Sri Lanka genannt, dem Ort der Handlung von Georges Bizets Oper Die Perlenfischer. Die große, vor der indischen Küste gelegene Insel war bis zum Aufkommen der Zuchtperle eines der traditionellen Gebiete für das gefährliche Tieftauchen nach den Muschelbänken. Mit wieviel Elend der seidig schimmernde Glanz des Schmucks erobert wurde, zeigt uns ein dreißigjähriger Regisseur, der im Ruhrgebiet aufwuchs und in München an der Bayerischen Theaterakademie August Everding ausgebildet wurde. Manuel Schmitt, 1988 in Oberhausen geboren, führt uns in die Welt erbarmungslos harter Arbeit, ohne die Poesie von Bizets Jugendwerk zu zerstören.
Chor und Extrachor des Gelsenkirchener Musiktheaters werden in seiner Deutung zu den heimlichen Hauptdarstellern. Indem Schmitt die Perlenfischer gegen prekäre Arbeitsbedingungen protestieren lässt und den Druck der Ausbeuterei des Menschen durch den Menschen zeigt, lässt er die dramaturgisch eher dürftige Dreiecksgeschichte zwischen den Hauptfiguren plötzlich erstaunlich plausibel erscheinen. Die offenbar weitgehend rechtlosen Arbeiter brauchen eine starke Vertretung: Deshalb wählen sie Zurga zu ihrem Anführer. Nicht weniger dringend verlangt es sie nach göttlichem Schutz: Daher muss eine verschleierte junge Frau als Priesterin über das Wohl der Fischer wachen. Dass die Schöne ausgerechnet jene Leïla ist, der Zurga und sein bester Freund Nadir um ihrer Männerfreundschaft Willen abgeschworen haben, setzt das Drama unweigerlich in Gang. Denn Nadir, der wie ein Rucksacktourist in die Welt der Perlenfischer hineinspaziert, erkennt Leïla fatalerweise als Erster.
Über Zeit und Ort des Geschehens lässt Schmitt uns absichtsvoll im Ungewissen. Provisorisch zusammengezimmerte Wellblechhütten, wie die Bühne von Bernhard Siegl sie zeigt, gibt es so oder ähnlich in Armenvierteln rund um Erdball. Der Regisseur erzählt eine globale Geschichte, in der das Blau des indischen Ozeans – auch dies sicher kein Zufall – auf farbverschmierten Arbeiteranzügen so allgegenwärtig ist wie die milchigen Plastikfolien. Diese dienen mal als Vorhänge, mal als bräutlicher Schleier der Priesterin Leïla, die darunter wie ein Porzellanpüppchen wirkt. Das Dichterwort von Heinrich Heine trifft hier aufs Schönste: „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu.“ Damit hat die Regie ihren Auftrag so deutlich erfüllt, wie man es nur selten erlebt.
Die Partitur der Perlenfischer, deren Quellenlage heikel ist, liegt in Gelsenkirchen in einer 2015 erschienenen Neuausgabe von Hugh Macdonald auf dem Dirigentenpult, die das originale Finale von Bizet enthält. Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen folgen ihrem ersten Kapellmeister Giuliano Betta am Premierenabend derart biegsam und schmiegsam, dass es die helle Freude ist. Die feinen Exotismen, häufig wie Schnörkel in die Musik eingewoben, wirken wie mit der Tuschefeder in den Gesamtklang gezeichnet. Lyrisches Melos strömt uns entgegen, oft berauschend süffig, ohne je Transparenz oder Eleganz einzubüßen. So lieblich die Soli von Holzbläsern und Harfe klingen mögen, so viel Strahlkraft entwickeln andererseits die Sturmmusik oder die hymnische Anrufung des Gottes Brahma. Wacher, kompetenter und engagierter kann man sich schwerlich für das Glanzstück des vierundzwanzijjährigen Bizet einsetzen.
Chor, Extrachor und Solisten stehen keineswegs zurück. Von den Protagonisten sei Stefan Cifolelli als Erster genannt. Der aus einer italienischen Familie stammende Belgier wagt sich mit der Partie des Nadir auf eine heikle Höhentour, die er glanzvoll besteht. Seinen lyrischen Tenor führt er mit feiner Eleganz und einem Timbre, das wunderbar diskret von Sehnsucht und Wehmut erzählt. Der Bariton Piotr Prochera ist als Zurga ein kerniger, gleichwohl sensibler Gegenspieler. Prochera hält sich wohltuend abseits von breitbeinigem Anführer-Gehabe: Er zeichnet Zurga als einen energischen Mann, in dem viel Schmerz und Zweifel kämpfen. Dongmin Lees Sopran klingt in der Rolle der Leïla zuweilen beinahe zu leicht, schwebt über ätherischen Tremoli aber trefflich davon. Dramatischere Passagen fallen der Sängerin schwerer, doch ist die Partie mit ihren großen lyrischen Bögen und den Trillerketten bei ihr zweifellos sicher aufgehoben.
Mit dieser Premiere hebt das Musiktheater Gelsenkirchen neben Königskinder von Engelbert Humperdinck und Schwanda der Dudelsackpfeifer von Jaromír Weinberger eine weitere Perle des Opernrepertoires. Warum nur steht Bizets erstaunlich meisterliches Jugendwerk nicht häufiger auf den Spielplänen?