Liebesdrama in heißem Sommer
Kurt Weill war ein absolutes Vorbild, wenn es um das Thema Integration geht. Seinen jeweiligen Exilorten passte er sich schnellstmöglich an, weil er wusste, dass man nur mit der Sprache eines Landes leben kann und nicht an ihr vorbei. So schrieb er in Paris ganz schnell französische Lieder und in New York eine amerikanische Oper: Street Scene. Und dieser Titel trifft den Nagel auf den Kopf. In einem tristen Wohnviertel spielt sich das Leben bei heißem Wetter auf der Straße ab. Es treffen Menschen mit unterschiedlichen Temperamenten aufeinander und alle haben einen – heute sagt man: Migrationshintergrund.
Vor diesem Hintergrund ereignet sich die Tragödie um Anna Maurrant, die vor ihrem lieblosen Ehemann in eine Affäre flüchtet. Am Ende erschießt ihr Mann sie und ihren Liebhaber. Zurück bleibt ihre Tochter, die nun eigenständig ihren Weg finden muss und will.
Hendrik Müller lässt in seiner Sicht auf Street Scene die von Weill und seinem Librettisten durchaus angelegten Fragen nach Rassismus beiseite und konzentriert sich ganz auf die emotionale Ebene der Handlung. Er arbeitet deutlich heraus, dass Anna Maurrant keine Chance hat auf nur etwas Glück in einer Umgebung, in der alle Nachbarn ihre Moralvorstellungen vor sich hertragen und mit einem Ehemann, der den Druck, den er bekommt, gnadenlos an seine Familie weitergibt.
Street Scene ist ein personenreiches Stück, das Konflikte thematisiert, die auftreten können, wenn viele Menschen in großer Nähe zusammenleben. Diese Nähe herauszuarbeiten gelingt vor allem durck Rifail Ajdarpasics geniales Bühnenbild. Er legt die Fassade eines Wohnhauses auf den Bühnenboden und bringt darüber einen Spiegel an. So wirken die Bewohner wie Fassadenkletterer, hocken in Fenstern im zweiten Stock oder blicken scheinbar hängend in Fenster hinein. Das ist teilweise atemberaubend.
Man mag es schade finden, dass Hendrik Müller gesellschaftspolitische Aspekte bewusst ausklammert. Oder man kann sein Konzept, voll auf die Emotionsebene zu setzen, goutieren. Man mag sich ergötzen an der hinreißenden erotischen Tanzszene, die Andrea Danae Kingston für Jendrik Sigwart und Kara Kemeny choreografiert hat und die ein musicalhaftes Element hineinbringt. Nichts trägt hinweg über eine Entscheidung des Regieteams, die bleiern über der gesamten Inszenierung liegt: Kurt Weill hat bewusst eine „amerikanische Oper“ geschrieben, eine Reverenz an das Land, das ihn aufgenommen hat, als er fliehen musste. Eine durchaus kritische Huldigung, aber eine Huldigung. Und er benutzt neben Elementen amerikanischer Musik vor allem die englische Sprache - auch als Fundament für seine Komposition. Warum also entscheidet sich ein Regisseur in Zeiten der Übertitelanlagen gerade ein solches Stück weitestgehend auf Deutsch singen zu lassen? Und das in einer Übersetzung, die aus - gelinde ausgedrückt - sehr simplen Reimen besteht. Das ist wahrlich eine schlechte Wahl, die den Charakter des Stückes bricht und sehr irritiert.
Das Riesenensemble macht seine Sache ganz ausgezeichnet. Alle formen ein „Biotop“ aus Menschen mit Sehnsüchten, Träumen und Nöten, kitzeln aus den vielen kleinen Rollen individuelle Charaktereigenschaften heraus. Beispielsweise begegnen wir Till Ormeloh aus dem TheaterJugendOrchester als jungem, triebgesteuertem Vincent Jones, aus dem Opernchor unter anderem Christian-Kai Sander als gewichtig-linksintellektuellen Abraham Kaplan und Ute Hopp als standesbewusste Gattin. Vom Solistenensemble seien zu nennen Suzanne McLeod als überforderte Mutter mit skandinavischem Akzent und Youn Seong Shim als überforderter, werdender Vater. Er muss, warum auch immer, im Clownskostüm über die Bühne huschen. Pascal Herington erfrischt als eisliebender Italiener.
Kathrin Filip ist Rose Maurrant, die stimmlich Kraft und Stärke beglaubigt, aus ihrer Umgebung auszubrechen und ein neues Leben zu beginnen. Und bewusst ihren Freund zurücklässt, dem Garrie Davislim den Touch des verträumten Intellektuellen gibt. Kristi Anna Isene lässt Sehnsucht und Traurigkeit fließen in ihre Anna Maurrant, die völlig unverstanden ist von ihrem Ehemann, dem jegliche Empathie fehlt. Gregor Dalal meißelt mit sonorer Tiefe seine rein funktionalen Ansprüche wie ein Presslufthammer in seine Familie.
Stefan Veselka und das Sinfonieorchester Münster nehmen den „Spirit“ von Kurt Weills Hommage an seine neue Heimat auf, lassen ihn erblühen.