Verständnis für einen Mörder?
Es ist die wahre Begebenheit im Leben der amerikanischen Ordensschwester Helen Prejean, die mehr zufällig in Kontakt kam mit dem zum Tod verurteilten Vergewaltiger und Mörder Joseph De Rocher. Ihre Erfahrungen während der jahrelangen Begegnung mit ihm schrieb Helen Prejean (Jahrgang 1939) in einem Buch auf, aus dem Regisseur Tim Robbins 1995 einen Film machte (mit Susan Sarandon in der Rolle der Schwester, die dafür einen Oscar bekam). Wenige Jahre später entstand aus dem Stoff die Oper Dead Man Walking von Jake Heggie, uraufgeführt im Oktober 2000 an der San Francisco Opera.
„Dead Man Walking“ sind die drei Worte, mit denen US-Justizangestellte jene Verurteilten begleiten, die zur Hinrichtung geführt werden. So auch am Schluss von Heggies knapp dreistündiger Oper. Wenig später verrichtet ein Injektionsapparat seinen Dienst und spritzt sein Gift in den Körper des Delinquenten. In der Inszenierung von Wolfgang Nägele ist dies der einzige Moment, der ein ganz klein wenig verunglückt wirkt, meint man doch, man sei in irgend einem Museum und stünde vor einer von dicken, bordeaurot gefärbten Kordeln eingerahmten Bahre, auf dem ein Kunstwerk präsentiert wird. Rings herum staunende Besucher. Tatsächlich aber sind es Schwester Helen, die Mutter und Geschwister des Mörders und vor allem die Angehörigen der beiden Opfer, die der Vollstreckung des Todesurteils beiwohnen.
Aber mit dem Ende des Joseph De Rocher ist das Thema der Oper längst nicht zu Ende, im Gegenteil: das Nachdenken über ein höchst schwieriges Problem setzt sich weiter fort. Ist die Todesstrafe ein legitimes Mittel einer Gesellschaft im Umgang mit Gewalttätern? Wer in Kategorien von Schwarz und Weiß denkt, hat einen klaren Vorteil: er oder sie urteilt schematisch. Mörder verdienen kein Mitleid, Mörder sind nach Recht und Gesetz zu behandeln. Punktum. Aber Schwester Helen denkt nicht in solchen Kategorien. Oder genauer: sie lernt, einen anderen Standpunkt zu suchen und zu finden. Als „meine eigene Reise“ beschreibt sie diesen Vorgang, den Jake Heggies Oper dann entfaltet, vor allem hinsichtlich der Auseinandersetzung Helens mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Ihr zunehmendes Verständnis für den Menschen Joseph De Rocher erregt Ärgernis, ja vehemente Ablehnung. Ihr instinktives Wissen darum, dass ein Mörder nicht von Grund auf schlecht ist, dass er - aus ihrer religiösen Überzeugung heraus - ein von Gott geliebter Mensch ist, stößt auf wenig Gegenliebe, sowohl bei ihrer Mitschwester Rose, erst recht bei den Hinterbliebenen der Bluttat.
Ein Erkenntnisprozess also, den die Oper entwickelt - und der dem Publikum zu denken gibt. Nicht einfach, da einen eigenen Standpunkt einzunehmen. In den USA ist das Thema Todesstrafe nach wie vor Gegenstand gesellschaftlicher Debatten. Die Protagonisten der Bielefelder Inszenierung helfen aber auch uns Europäer dabei, Position zu beziehen, denn sie fühlen sich mit Hirn und Herz überzeugend und nachvollziehbar hinein in die Gedankenwelten der handelnden Personen. Allen voran Nohad Becker als Schwester Helen, die aus ihren Selbstzweifeln an der Sympathie für Joseph De Rocher keinen Hehl macht, gleichwohl an ihm festhält („man muss Verbrechen hassen, nicht Verbrecher“); da ist Evgueniy Alexiev, der verurteilte Mörder, der sich so lange als Betonkopf gibt, die Tat kategorisch abstreitet, sich abweisend und kalt verhält, um am Ende der Welt und vor allem sich selbst gegenüber denn doch seine Schuld zu bekennen. Katja Starke ist die Mutter von Joseph, die in einem unglaublich beeindruckend vorgetragenen Monolog ihren Sohn verteidigt. Cornelie Isenbürger verkörpert Helens Mitschwester Rose - besorgt darum, diese ganze Geschichte könne an Helens Substanz gehen, weshalb sie den Kontakt zum Gefangenen abbrechen solle. Kitty und Owen Hart, Jade und Howard Boucher, die Eltern, die ihren Sohn resp. Tochter verloren haben, bleiben weitgehend bei ihrem Urteil gegenüber Joseph. Daran lassen die Darsteller Melanie Kreuter, Frank Dolphin Wong, Patricia Forbes und Dumitru-Bogdan Sandu keinen Zweifel. Allein Owen Hart (Frank Dolphin Wong) kann sich ganz am Ende eine Spur hineindenken in das, was Helen bewegt.
Viel Psychologie zieht sich durch Heggins Dead Man Walking. Und das unterstützt die Regie ebenso wie deren Ausstattung: vier schrankartige hohe Kästen stellt Stefan Mayer auf die Drehbühne, Vorder- und Rückseite als durchlässige Lamellenwände gestaltet, die schnelle Auf- und Abgänge gestatten. Immer wieder dringt kaltes Neonlicht aus dem Schnürboden herab auf die Szenerie, schwebt dann in Form von Leuchtstoffröhren im Finale bis auf den Boden. Eine schauerliche Atmosphäre!
Weniger schauerlich ist Jake Heggins Musik, die vielfältige Anleihen macht. An Spätromantik, an Musical-Sound, an barockem Vokabular (absteigende Chromatik), an die Zeit der großen Oratorien des 18. Jahrhunderts, wenn es um die von Hagen Enke allerbestens vorbereiteten Chöre geht. Kapellmeister Gregor Rot hat das dichte Werk perfekt „im Griff“, koordiniert die Klänge der Bielefelder Philharmoniker im Orchestergraben punktgenau mit den Akteuren auf der Bühne, schafft enorme Spannung zwischen lyrischem Orchesterflüstern und gewaltigem Tutti - eine berührende Inszenierung!