Übrigens …

Otello im Essen, Aalto-Theater

Am Abgrund

Dies hier ist die Hölle. Das Fegefeuer am Ende eines Krieges. In dem die Gestalten wie im Wahn um sich selbst kreisen. Als Soldaten, die zu Beginn wie Zombies wirken, als Zitterer, Voyeure, Intriganten. Es herrscht die Brutalität, es regiert der Hass. Mittendrin Otello, der siegreiche Feldherr Zyperns, der aus seiner letzten Schlacht mit verkrüppeltem Bein herauswankt. Bald beginnt sein seelischer Verfall, erhebt sich der Rachedurst aus dem Geiste der Eifersucht. Angetrieben vom großkotzigen, hinterhältigen, zynischen, monströsen Ungeist namens Jago. Ein Mephisto, der alle Strippen in der Hand hält. Und am Ende siegestrunken von der Bühne stolziert. In der Hölle, da herrscht eben das Böse, und die Liebe geht in Flammen auf.

Im Essener Aalto-Theater ist jetzt Giuseppe Verdis Otello zu sehen als wuchtige Dystopie, als bildmächtige Tragödie, die weit über das Leiden des Titelhelden hinausgeht. Regisseur Roland Schwab zeigt eine Welt der Rohlinge und des Machismo, in der eine Frau wie Desdemona sich fügt oder untergeht. Im sehnsuchtsvollen Liebesduett des 1. Aktes herrscht keine intime, verträumte Zweisamkeit, sondern lustgetriebene, barsche Sexualität. Und später, wenn sich Otellos von Eifersucht gespeiste Wut in wilder Raserei entlädt, wirft er sich über seine keusche Frau in entwürdigender Vergewaltigungsmanier. Die zweite Dame in diesem Karussell der Vernichtung, Desdemonas Vertraute Emilia, zugleich Jagos Gattin, kommt als verhärmte Gouvernante daher. Als Randfigur in einem wahnwitzigen Spiel.

Ohne ihn, den großen Zampano, den Nihilisten namens Jago, geht hier nichts. Ihn sehen wir als Erstes, Nebelschwaden versprühend, dann als Einpeitscher das Orchester ins Sturmgetümmel treibend, und immer wieder Stimmung machend, auf dass die Glut des Hasses, des Neides, des Zweifels nicht verlischt. Diesmal könnte die Oper tatsächlich Jago heißen, zumal der Bariton Nikoloz Lagvilava die Szene beherrscht wie sonst niemand. Gaston Riveros Otello entpuppt sich in dieser Konstellation als ein Getriebener, Geschundener, der sich aufs Reagieren beschränken muss. Im spektakulären Bühnenbild von Piero Vinciguerra, das die Apokalypse heraufbeschwört, zugleich die Hölle als ein großes Gefängnis zeichnet, mit einem wuchtigen Konstrukt aus Jalousien, ist dem Feldherrn jegliche Freiheit genommen. Im Grunde haben sich alle in diesem zerklüfteten Käfig verheddert, bis auf Jago, dem Meister der Verschlagenheit.

Diese Kulisse, sie ist nahezu filmreif. Frei assoziieren wir zunächst Don Siegels Straflager-Produktion Flucht von Alcatraz oder John Carpenters Endzeitdrama Die Klapperschlange. Doch alsbald wird glasklar: Brennende Grünstreifen, bruitistische Militärs im Ausnahmezustand, ein Otello, dem nicht mehr beizukommen ist und der am Ende von Jago per Giftgas ins Jenseits befördert wird, lehnen sich an einen der berühmtesten Anti-(Vietnam)kriegsfilme an, Apokalypse Now. Spannender und stringenter haben wir Verdis Oper noch nicht gesehen. Das Publikum lässt sich entsprechend mitreißen - lautstarke Akklamation fürs Regieteam inbegriffen. Das kommt in Essen wahrlich nicht allzu oft vor.

Da sich nun eins ins andere fügt, kann die Musik offenbar kaum ins Filigrane, in die abgestufte Dynamik ausweichen. Matteo Beltrami am Pult der Essener Philharmoniker heizt mächtig ein, lässt Verdis Dramatik an allen Ecken und Enden auflodern. Doch gerade der Schlussakt, Desdemonas sanft seliges, resignierendes „Lied von der Weide“, ihr inniges „Ave Maria“ hätten mehr Liebe zum Detail verdient, zur orchestralen Differenzierung. Bei der Sopranistin Gabrielle Mouhlen kommt hinzu, dass neben aller Gestaltungskunst der teils verhärmten Stimme die Wärme fehlt, mitunter auch die saubere Fokussierung.

Nikoloz Lagvilava (Jago) und Gaston Rivero (Otello) sind als Gegenspieler zwei vokale Kraftprotze. Der Bösewicht setzt zudem schneidende Schärfe ein, müht sich aber in mancher Legato-Passage. Seine Verschlagenheit wird von der Stimme wenig beglaubigt. Der Feldherr wiederum bietet voluminöses Metall, die hohen Töne sitzen meist, wenn auch ohne Glanz. Alles ist eben auf Entäußerung angelegt. „Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut“, heißt es in Alban Bergs Wozzeck. Hier, im Essener Otello, haben sie hinabgesehen. Und fanden - die Hölle.