Schlacht mit Müllsäcken
Der Vorhang ist offen, so dass man gleich ausreichend Zeit hat, das fantastische Bühnenbild von Etienne Pluss in Augenschein zu nehmen. Es zeigt einen über Eck führenden Treppenaufgang mit kostbarem Geländer, vorbeiführend an hohen Fenstern, gekrönt von einem Lüster. Die eigentliche Spielfläche ist ein geräumiger Keller, in welchem Müllsäcke und allerlei Zivilschrott gestapelt sind, darunter ein Trichtergrammophon. Die Handlung von Elektra spielt sich also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Die fünf Mägde, im identischen Outfit eher wie Hostessen wirkend, werfen weitere graue Säcke von oben herunter und erhöhen mit ihnen den Müllberg extrem. Gut, denkt man, ein interessanter interpretatorischer Akzent, der vielleicht noch etwas hergibt. Oben also die vornehme Residenz von Klytämnestra, unten die Absteige, in welcher Elektra ihr beklagenswertes Leben fristet.
Dann holen die Hostessen einen Tisch herein und decken ihn für zwei Personen. Wer mögen diese beiden wohl sein? Zum einen Klytämnestra. In ihrem Goldglitzergewand wirkt Nicole Piccolomini in keinster Weise „verwüstet“, strahlt vielmehr starke Eleganz aus, auch vokal. Sie schreitet die Treppe herab und sieht sich plötzlich mit ihrer ausgestoßenen Tochter konfrontiert. Warum aber ihre Erschrockenheit, fragt man sich und den vor allem in Leipzig wirkenden Regisseur Enrico Lübbe. Es ist doch für zwei Personen angerichtet. Während Klytämnestra von ihren fürchterlichen Träumen erzählt, gönnt sich Elektra immer wieder mal einen Schluck Wein. Eigentlich ein Affront für ihre doch so giftige Mutter. Auch bei einer Fleischplatte langt sie ordentlich zu, lässt dabei freilich ein Messer blitzen und stößt es dann in den Braten (ob Kalb, Huhn oder Rind ist nicht erkennbar).
Beim Monolog „Allein. Weh ganz allein“ ist Elektra das mitnichten. Vielmehr treten paarweise acht Elektras und Orests auf und steigen die Treppe hinan. Schon klar, das sind Wunschvorstellungen von Rache - aber muss das so massiv bebildert werden? Und dann stehen die Orests auch noch in Reih und Glied und schlagen mit Äxten auf den Boden. Wer jetzt die Situation noch nicht kapiert hat, dem ist nicht zu helfen. Die ganze Statistenriege samt Hostessen unterstützt später auch Klytämnestras Lachen. Der ganze Saal ist dann von Schallexplosionen erfüllt.
Enrico Lübbe neigt dazu, Intimes zu veräußerlichen. Darüber vergisst er mitunter auch Vorgaben des Hofmannsthal-Textes. Beispielsweise entflieht die fünfte Hostess nach ihrer Anklage in das obere Stockwerk. „Sie schlagen mich“ ruft sie verzweifelt. Aber ihre Kolleginnen sind noch alle auf der Bühne. Vor dem Orest-Auftritt sucht Elektra vergeblich im Müllhaufen nach dem vergrabenen Beil und findet es nicht. Zum Schluss jedoch ein Griff nur, und sie hält es in der Hand. Überhaupt dieses Finale. „Schweig und tanze“ singt Elektra. Die stumme Körpersprache ist also ihr elementares Ausdrucksmittel. Der Regisseur lässt sich die Protagonistin indes mit Müllbeuteln exaltieren, gemeinsam mit den Hostessen, die doch eigentlich ihre Gegnerinnen sind. Zuletzt versinkt sie in dem ganzen Plunder.
Einige positive Aspekte der Inszenierung seien nicht unterschlagen. Das sind die Momente von Elektra mit sich selbst, mit ihrer Schwester Chrysothemis und dann mit ihrem Bruder Orest. Der ist körperlich verkrüppelt, hat nur noch den rechten Arm und hinkt mühsam. Dass ihn der Muttermord für die Zukunft zeichnet, macht Lübbe erfahrbar. Aber in summa wird seine Inszenierung dem komplexen Psychodrama von Strauss/Hofmannsthal höchstens ansatzweise gerecht.
Unter Dirk Kaftan spielt das Beethoven Orchester hochkonzentriert und vibrierend. Man kann in den Klangfluten regelrecht untertauchen, vernimmt aber auch die vielen raffinierten Farbdetails der Partitur. Mit Aile Asszonyi in der Titelpartie wird der Dirigent zu Recht am nachdrücklichsten gefeiert.
Die estonische Sopranistin ist wirklich superb. Selbst in hochdramatischen Passagen bleibt ihre Stimme bei aller vokalen Power weich gerundet: diese Elektra ist keine bloße Mänade, sondern ein armes Wesen, welches alle Fraulichkeit in sich unterdrückt hat. Im Zwiegespräch mit Orest wird ihr dieser selbst auferlegte Verzicht wieder schmerzhaft bewusst („Ich glaube, ich war schön“). Man leidet mit dieser Elektra.
Manuela Uhl gibt eine soprankernige Chrysothemis mit viel eigenem Leidpotential, Martin Tzonev einen in sich gekehrten, schicksalsbelasteten Orest. Die Tenöre Johannes Mertes (Ägisth) und David Fischer (Junger Diener) beeindrucken stark. Bei den anderen Ensemblesängern gibt es Licht und Schatten.
Einige waren bereits an der letzten Bonner Elektra vor einem Jahrzehnt beteiligt, so auch Mark Morouse, welcher als Orest diesmal vorerst nur für eine einzige spätere Aufführung angekündigt ist. Das Dirigat oblag 2009 dem damaligen GMD Stefan Blunier, Regie führte Intendant Klaus Weise. Auf Youtube gibt es von der Aufführung Ausschnitte zu sehen.