Boris Godunow im Mönchengladbach, Theater

Respekt und Skepsis

Das Gemeinschaftstheater Krefeld/Mönchengladbach spielt Mussorgskys Boris Godunow in der Urfassung von 1868/69. Fraglos die beste Entscheidung für das Werk, welches bis heute unzählige Bearbeitungen zu verkraften hatte, darunter die fraglos sehr attraktive, aber beschönigende Version von Nikolaj Rimsky-Korsakow. Deutschland lernte das Original erstmals 1970 an der Oper Köln kennen (Dirigent: István Kertész, Regie: Jean-Pierre Ponnelle). Die erfolgten Veränderungen an der Oper (u.a. von des Komponisten eigener Hand) sind übrigens durchaus nicht à tout prix zu verwerfen. So schreibt das Finalbild „Waldlichtung bei Kromy“ die Machtanmaßungen im alten Rußland beispielsweise eindrucksvoll weiter. Ein wenig muss man sich - mit Rimsky-Korsakow im Ohr – immer noch an manche Kargheiten von Mussorgskys Tonsprache gewöhnen, auch an die Verweigerung von pompösen Theater, welches in dem „Volksdrama“ der Chor freilich immer noch andeutend repräsentiert. Wie auch immer: der Aufwertung und Repertoirefestigung des Original-Boris ist mit voller Überzeugung zuzustimmen.

Die Wahl des Russischen bedeutet eine enorme Herausforderung für ein deutsches Opernhaus, auch wenn sich Originalsprachen (jenseits des Italienischen und Französischen) mittlerweile durchgesetzt haben. Köln spielt derzeit wie selbstverständlich Rusalka auf tschechisch, Bonn wird mit Janaceks Sache Makropoulos in Bälde nachziehen. In Krefeld/Mönchengladbach wurde vor einiger Zeit Katja Kabanowa in slawischer Sprache gegeben. Die Mühen um einen russischen Boris verdienen ein besonderes Kompliment, zumal an der Aufführung ein 70(!)köpfiger Chor beteiligt ist.

Unter Mihkel Kütson wird Mussorgskys Musik eindrucksvoll zum Klingen gebracht. Die Niederrheinischen Sinfoniker lassen ihre teilweise spröde Eigensprachlichkeit ungeschönt zu. Man fühlt sich immer wieder betroffen, mit welchem Mut die „Boris“-Partitur konzipiert ist. Neben Berlioz und Wagner ist Mussorgsky zu den besonders Radikalen in der Musikszene des 19. Jahrhunderts zu zählen.

Zuletzt verkörperte Johannes Schwärsky in Krefeld/Mönchengladbach Verdis Nabucco, eine Belcanto-Partie also. Den „schönen Ton“ behält er bei seinem Boris passagenweise bei, ohne ihn als Selbstzweck auszustellen. Dass der Sänger ein Bariton ist, gibt der Partie von Anfang an eine andere Farbe, die man so nicht - der weite Rückgriff sei erlaubt - von einem Boris Christoff oder George London kennt. Diese Sänger suggerierten tatsächlich Zaren-Autorität. Bei Schwärsky wirkt der Boris eher privat, fast schon häuslich (im Umgang mit seinem Sohn Fjodor) und entschieden legerer. Das hat auch mit dem Straßenanzug zu tun, welchen er statt einer opulenten Herrscherkleidung trägt. Beim Chor wirkt die leicht moderne Alltagskleidung nicht gleichermaßen verfremdend. Schwärskys Rollenprofil wirkt all dessen ungeachtet ausgesprochen überzeugend.

Auch dem Pimen von Hayk Dèinyan eignet kaum das Pastose, Predigerhafte historischer Rollenporträts. Der armenische Bassist besitzt etwas Erdverhaftetes, sein väterlicher Umgang mit Grigorij wirkt nicht streng pastoral. Dass ein Mehr an vokaler Autorität dem Rollenporträt zugute kommen würde, sei freilich nicht verschwiegen. Dafür gefällt Matthias Wippich mit seinem drastischen Warlaam besonders. Diese Partie liegt seiner Stimme.

Bei den Tenören sind Entdeckungen zu machen. Der Ukrainer Igor Stroin, Gast am Theater Krefeld/Mönchengladbach, verfügt über eine breit strömende, raumfüllende Belcanto-Stimme; entsprechend sein bisheriges, italienisch dominiertes Repertoire. Schade natürlich, dass er sich nicht auch noch im freilich rechtens unter den Tisch gefallenen Polen-Akt präsentieren kann. Ergreifend und höhensicher gibt David Esteban den Gottesnarren und macht neugierig auf künftige Rollen. Kairschan Scholdybajew, ähnlich langjähriges Ensemblemitlglied des Hauses wie Dèinyan, porträtiert den Schuisky souverän und herausfordernd, ohne gleich den Brunnenvergifter zu spielen.

Gute Ensembledienste leisten Susanne Seefing (Fjodor), Sophie Witte (Xenia), Janet Bartolova (Schenkwirtin), Markus Heinrich (Missail) und die anderen Nebenrollensänger. Herauszuheben wäre Rafael Bruck als baritonal markanter Schtschelkalow. Und natürlich der von Michael Preiser einstudierte Chor.

Die höchsten Respekt erheischenden musikalischen Leistungen hätten es verdient, im Rahmen einer adäquaten Inszenierung wirksam zu werden. Das, was die junge Regisseurin Agnessa Nefjodov mit ihren Ausstatterinnen (Bühne: Eva Musil, Kostüme: Nicole Von Graevenitz) präsentiert, würde der Rezensent eigentlich lieber übergehen. Die Szene bietet karge, schwarze Wände und Bauten, die mitunter sichtbar von Bühnenarbeitern verschoben werden, sogar in der Szene von Boris‘ Tod. Optische Ausstrahlung gleich Null. Der Chor spaziert mit Leuchtpfählen auf Rollen herein, spielt - wie auch die Solisten – ständig sinnentleert mit ihnen. Nervig, nervig. Mit dem Chor vermag die Regisseurin generell nichts anzufangen, Statik, Statik (außer am Anfang). In der klitzekleinen Schenke drängeln sich die Darsteller auf einer Bank zusammen, die Flucht von Grigorij bleibt durch das Fallen des Vorhangs verborgen. Blamabel, blamabel. Bei Boris‘ Tod marschiert der Chor wieder einmal uniform auf die Bühne und hinterlässt die Leiche des Fjodor. Vor dieser genialen Bildidee drückt man sich erschüttert in den Zuschauersitz. Das Premierenpublikum bejubelte am Ende auch das Szeniker-Team. Unverständlich, unverständlich.