Im Panoramawagen mit Top-Speed dem Untergang entgegen
Von der Weimarer Republik, über den Faschismus bis tief hinein in die Bonner Nachkriegsdemokratie war der Name „Rheingold“ Sinnbild für luxuriöses Bahnfahren. Der so getaufte Schnellzug garantierte müheloses, stressfreies Reisen. Sogar einen Panoramawagen ließ die Bundesbahn für den „Rheingold“ konstruieren. Der bot einen Blick ohne Einschränkungen auf deutsche Landschaften.
Noch universeller erscheint dieser Panoramawagen in Michael Schulz‘ Sicht auf Richard Wagners Das Rheingold. Denn Heike Scheele stellt ihn zunächst als eine Art U-Boot auf die Bühne, das den Rhein durchpflügt und dessen Wellen es umspülen. Vom sicheren Erste-Klasse-Sitz versuchen die Rheintöchter Alberich in die Fluten zu locken, um sich weiter über ihn lustig machen zu können. Doch bekanntlich hustet er ihnen was, schwört Lust und Liebe ab. Dann nimmt er das Rheingold mit, um Leidenschaft zu tauschen gegen materielle Macht und Reichtum.
Und im nächsten Waggon des Zuges haben schon Götter mehrere Abteile okkupiert. Wotan ist ihr Reiseführer nach Walhall, der von Riesen erbauten Trutzburg für die nordische Göttersippe. Doch nicht die heute allgegenwärtige, simple Dauerverspätung der Bahn verzögert die Inbesitznahme der neuen Götterbehausung. Nein, der Göttervater hatte schlicht vergessen, den nötigen Spargroschen zurückzulegen. Und ohne Kapital kein neues Domizil. So einfach scheint das. Dumm nur, dass man den Riesen Freia, die mit ihren Äpfeln den Göttern ewige Jugend verschafft, den Riesen zum Pfand angeboten hat Die scheint nun verloren. Gut, dass der schlaue Feuergott Loge von Alberichs Golddiebstahl erfahren hat. So führt er Wotan zum Schatz, den Alberich begonnen hat in ein Stahl-Imperium zu verwandeln.
Michael Schulz erzählt, wie Wotan den Schatz klaut, den Ring des Nibelungen für sich nimmt, ihn aber wieder verliert. Schulz erzählt vom Wesen und der Wurzel des Kapitalismus, von der Fatalität der Gier nach Macht.
Und er kann sich verlassen auf „sein Ensemble“. Mit dem Rheingold demonstriert er die Früchte seiner Arbeit in Gelsenkirchen, die Wert legt auf Sänger*innen, die glänzen durch das Agieren miteinander, die aufeinander eingespielt sind. Diese Tugenden zu entfalten, ist Das Rheingold bestens geeignet. Das MiR kann mit solchen Pfunden wuchern.
Die Rheintöchter Bele Kumberger, Lina Hoffmann und Roshana Milkov harmonieren stimmlich bestens. Und auch die Götterfamilie ist schön besetzt. Piotr Prochera ist als Donner wie so oft eine Bank. Dagegen könnte Khanyiso Gwenxane als Froh vom Volumen her noch etwas zulegen. Petra Schmidt glänzt als Göttin der ewigen Jugend - strahlend hell und jung klingt ihr Sopran.
Tobias Glogau leidet wunderbar als Mime, den sein Bruder Alberich unterjocht. Joachim Gabriel Maaß buhlt als Riese Fasolt herrlich um die Göttin Freia, während Michael Heine als sein Bruder Fasolt eher rustikal daher kommt.
Almuth Herbst singt Fricka und die Urmutter Erda. Als Fricka bleibt sie ein wenig den bestimmenden, fordernden Charakter dieser Rolle schuldig. Dafür glänzt sie mit rotgoldener Altfärbung als prophezeiende, warnende Erda. Das ist großartig. Dagegen legt Urban Malmberg den Alberich eher zurückhaltend und wage an.
Bastiaan Everink hat als Wotan durchaus noch viel Luft nach oben. Sein schöner, wohlgeformter Bariton lässt im Ausdruck unbedingten Macht- und Herrschaftswillen nicht in letzter Konsequenz erkennen.
Will man einen beherrschenden Sänger in dieser Inszenierung ausmachen, so ist das der Loge Cornel Freys. Ganz glänzend lotet Frey den zwiegespaltenen Charakter des Feuergottes aus. Er gehört nicht ganz zu den Göttern, wird von ihnen auch nur akzeptiert, wenn er ihren Interessen dient. So kann er locker Wotan in sein Verderben rennen lassen. Cornel Freys Tenor lässt das züngelnde Lodern der Flammen richtiggehend erfahrbar machen.
Die Neue Philharmonie Westfalen unter Giuliano Betta durchkämmt Wagners Partitur, ließ die Musik anschaulich durch den Zuschauerraum fließen. MiR-Intendant Schulz wählt Das Rheingold nicht als Auftakt für Wagners Ring des Nibelungen, sondern als herausgenommen Teil. Das kann man machen, denn Das Rheingold wirkt auch als einzeln stehendes Stück. Doch lässt Schulz die Antwort auf die Frage offen, warum er es inszeniert. Denn wirklich interpretatorisch Neues hat er in Gelsenkirchen nicht zu sagen.