Diese Oper gehört ins Repertoire
Der Abend begeistert von A bis Z. Diese wenigen Worte könnten bereits Lob genug sein. Aber natürlich ist die vom Premierenpublikum mit frenetischem Applaus geteilte Euphorie näher zu begründen.
Das Schauspiel Street Scene von Elmer Rice (1929) hatte den in die USA emigrierten Komponisten Kurt Weill nachhaltig angesprochen. Daraus eine Oper zu gestalten, bedeutete für ihn die „Erfüllung (von) Träume(n), die zu einer Art Zentrum geworden waren, um das all mein Denken und Planen kreiste.“ Es war der Traum von einem genuin amerikanischen Musikdrama, welches mit seinen Ansprüchen über traditionelle Broadway-Produktionen entschieden hinausging. Leonard Bernstein hat sich später ein solches Ideal ebenfalls erträumt und mit Trouble in Tahiti zu verwirklichen versucht. Doch erst die Kombination mit einer Fortsetzungsgeschichte (A quiet place) gab der Sache angemessene Kontur, ohne freilich zum erhofften Erfolg zu führen. Doch immerhin hat vor kurzem das Theater Aachen bewiesen, daß aus dem Werk wirklich Funken zu schlagen sind.
In Deutschland wurde Street Scene (Uraufführung 1947 in New York) erstmals 1955 in Düsseldorf gegeben, die Rezeption verlief danach jedoch stockend. Die Kölner Produktion nährt jedoch die Überzeugung, dass dieses Werk dauerhaft ein Opernhit werden könnte. Dem könnte nur im Wege stehen, dass die Anzahl der Mitwirkenden immens ist. Aber dem hat sich vor 15 Jahren beispielsweise das Theater Aachen gestellt. Kürzlich gab es auch eine Produktion Münster, welche dem Vernehmen nach allerdings an dem gewählten deutschen Text litt.
Der Werktitel Street Scene wirkt etwas neutral, und die Handlung der Oper beginnt auch einigermaßen beiläufig mit der Schilderung vom Leben in einem New Yorker Stadtteil, wo Enge und Hitze das Dasein schwer machen. Erhitzt sind auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Frank Maurrant etwa, der auf vergangene Werte schwört, zwingt seine Familie zu einem unwürdig geknechteten Leben. Das sich seine Frau Anna in ein Verhältnis flüchtet, kann nicht ausbleiben. Die Entdeckung durch Frank endet tödlich für den Lover (Pistole) und auch Anna, die nach dieser Bluttat im Krankenhaus nicht mehr aufwacht. Tochter Rose vermag sich nicht auf eine Beziehung zu dem ihr seelenverwandten Bücherwurm Sam einzulassen, möchte in ihrem Leben erst einen Reifungsprozess durchmachen, denn “Liebe ist das eine, Bindung ein anderes“. Fernes gemeinsames Glück mag freilich nicht ausgeschlossen sein.
Das Werk bietet noch eine Vielzahl weiterer Schicksale, von Weill mit einer Musik begleitet, welche Oper und Broadway in eine ausbalancierte Beziehung setzt. Musical-Sound und Operetten-Sentiment finden ebenso Platz wie Opern-Belcanto (Singstimmen mitunter unisono mit den Geigen). Das Orchester hat sich mitunter regelrecht jazzig zu geben, was in Köln den Gürzenich-Musikern unter dem vitalen Dirigenten Tim Murray faszinierend gelingt. Eine konzeptionelle Besonderheit von Weills Oper ist nota bene, daß auch die Sprechszenen fast durchgehend von Musik untermalt werden, so daß die „Nummern“ nicht isoliert, sondern organisch miteinander verbunden wirken.
Das Gürzenich-Orchester sitzt (wie auch sonst häufig im Provisorium Staatenhaus) hinter der Bühne, die Sänger orientieren sich via Monitoren im Zuschauerraum. Das klappt bestens, und an der Akustik ist absolut nichts zu bemängeln. Der Bühnenaufbau Dick Birds (von ihm auch die stimmigen Kostüme) ist eine rampenparallele, mehrstöckige Häuserfront, durchsichtig, so daß man die Menschen in ihrer Geschäftigkeit nicht nur auf der Straße, sondern auch in ihren Wohnungen ständig im Blick hat. Dem Regisseur John Fulljames (er ist derzeit Intendant der Dänischen Oper in Kopenhagen) gelingt eine fantastische Bühnenlebendigkeit. Neben stimmiger Psychologisierung von Einzelpersonen ist es ja mit die wichtigste Aufgabe des Regisseurs, das pralle Gewusel von Stadtleben ständig in Gang zu halten. Das macht Fulljames grandios und beweist seine personale Führungsqualität nicht zuletzt beim groß besetzten Chor (incl. Kinder). Einige musicalnahe Einlagen sind inszenatorisch gewollt, vom Werk teilweise aber auch vorgeschrieben wie das wirbelige Tanzduett mit Emma Kate Nelson und Alan Burkitt. Hier teilt sich übrigens das Bühnenbild und gibt den Blick vorübergehend frei auf das mit Glühbirnen showmäßig illuminierte Orchester. Der späte Auftritt zweier Kindermädchen (wiederum Emma Kate Nelson, jetzt mit Maike Raschke) lässt bei aller Tragik des Erlebten ironisch durchatmen. Die Schlussszene gleicht dem Beginn der Oper. Trotz Schmerz und Tod: das Leben geht in all seiner Lust und Last unvermindert weiter.
Die Aufführung von Street Scene ist eine Kooperation vom Teatro Real Madrid und der Opéra de Monte Carlo. Nahezu sämtlich Sänger erlebt man in Rollendebüts. Sie gestalten ihre Partien mit spürbarer Lust an prallem Bühnenspiel. Den cholerischen, engstirnigen Frank Maurrant gibt Kyle Albertson mit kraftvoll loderndem, Wagner-gestähltem Bariton. Auch Allison Oakes erobert sich, ohnehin Bayreuth-erfahren, zunehmend das Wagner-Repertoire, wirkt als emotional fragile Anna Maurrant bei aller vokalen Intensität jedoch angenehm lyrisch. Emily Hindrichs überzeugt als Tochter Rose auf voller Linie; sympathisch ihr Partner Jack Swanson als Sam. Großartig weiterhin der jüngste Sproß der Familie, Willie, mit Joseph Sonne aus der Chorakademie Dortmund besetzt. Unmöglich, auf alle weiteren Mitwirkenden einzugehen. Doch wenigstens seien Young Woo Kim als werdender Vater Daniel Buchanan (in Erinnerung immer noch sein hinreißender Siegmund in der Kinderopern-Walküre) und der vielseitig bewährte Martin Koch als tenoral hinreißend schmetternder US-Amerikaner Lippo Fiorentino erwähnt. Seine Frau (Claudia Rohrbach) gehört wie auch Olga Olsen (Adriana Bastidas-Gamboa) zum Trio der Tratsch-Weiber, welches von Dalia Schaechter (Emma Jones) mit virtuoser Giftigkeit angeführt wird.