Schöne neue Welt im Theater Münster

Ausflug in die Zukunft

„Hello! Good morning.“ Alles ist bestens, alle sind glücklich und zufrieden, grinsen bis über beide Ohren und tänzeln sich schwungvoll hinein in den neuen Tag. Tja, so sieht sie aus, die schöne neue Wohlstandsgesellschaft, in der alles läuft wie geschmiert. Oder besser: wie manipuliert? Schließlich ist es die Brut- und Normzentrale Berlin, die all das kontrolliert, was man „Leben“ nennen könnte. Ein „Leben“ im Jahre 632 „nach Ford“, in das Aldous Huxley seinen berühmten Roman Schöne neue Welt („Brave New World“) verortet. Wobei mit „nach Ford“ jener Punkt der Menschheitsgeschichte gemeint ist, an dem der Autor den Beginn der industriellen Massenproduktion von Gütern festmacht. 632 Jahre später also… - da werden nicht mehr Autos, da werden Lebewesen industriell erzeugt. Oder wie es bei Huxley heißt: „entkorkt“.

Es war und ist eine Negativ-Utopie, die Huxley vor fast neunzig Jahren beschrieb und die so utopisch schon lange nicht mehr ist. Retortenbabies kennen wir inzwischen, geklonte Schafe auch. Und die gesellschaftliche Diskussion über den Weg zum „Designer-Baby“ nimmt gerade in den letzten Wochen wieder neue Fahrt auf. Wollen wir so etwas? Steuern wir zu auf Huxleys Kastengesellschaft mit dominanten Alpha-Tieren, die über „Menschen“ zweiter, dritter, vierter und fünfter Klasse herrschen?

Darum geht es auch in dem Musical Schöne neue Welt von Achim Gieseler, das 2006 am namhaften „Grips Theater“ zur Uraufführung kam und zu dem dessen Gründer Volker Ludwig das Buch und die Songtexte schrieb. Es ist der Stoff, das Münsters „TheaterJugendOrchester“ (TJO) zu seinem aktuellen Bühnenprojekt auserkoren hat, inszeniert von Alban Renz, ausgestattet von Melanie Walter, gespielt auf der Bühne und im Orchester von ganz vielen jungen Menschen.

Um es ehrlich zu sagen: Gieselers Musical ist nicht der Bringer. Leider. Ob es an Huxleys Romanvorlage liegt? Oder an Volker Ludwigs holzschnittartiger Textfassung (was eher wahrscheinlich ist)? Einerlei. Das Stück ist mit rund 110 Minuten Spielzeit schlicht und einfach erheblich zu lang für den Inhalt, den es präsentiert. Denn es geht eigentlich nur um ein und dasselbe: was früher mal wirklich menschlich war, zeitigt in der „schönen neuen Welt“ Brechreiz. Der Begriff „Mutter“ zum Beispiel. Oder die bloße Vorstellung, dass Mann und Frau (oder Mann und Mann resp. Frau und Frau) miteinander Sex haben. Um Himmels willen! So etwas ist nur noch virtuell als Cyber-Sex vorstellbar. Dazu hat man schließlich seinen grell blinkenden Chip am Gürtel! Wer aus der Reihe tanzt, dem wird „Soma“ verabreicht - die Wunder-Droge, die gefügig macht.

Huxleys Horror-Vision aus dem Jahr 1932 wird von Gieseler/Ludwig nacherzählt. Doppelt und dreifach. So weit, so schlecht. Jetzt könnte man hoffen auf eine Interpretation seitens der Regie, die das Ganze in Verbindung bringt mit den realen Lebensumständen derer, die da gerade im Theater sitzen. Stichwort Überwachungsstaat, Reproduktionsmedizin, soziale (in vielen Fällen eher: asoziale) Netzwerke, der Ruf nach „starken Führern“, populistische Großsprecher allüberall, narkotisierende Drogen in jedweder Form (in Pulverform oder auf dem TV-Bildschirm). Selbst die der „schönen neuen Welt“ Opponierenden wie der Bedenkenträger Dr. Dr. Marx, die nachdenkliche Lenina oder der „wilde“ (weil Mensch gebliebene) John samt seiner Mutter bleiben Abziehbilder in einer eigentlich schrecklichen Zukunftsvision, die ihren Schrecken in diesem Musical aber nirgends offenbart. Gezeigt wird die unhinterfragte Wohlstandsgesellschaft mit ihrem von vorn bis hinten unglaubwürdigen „Haititai“ und „lalala“. Nach den ersten zehn Minuten der Aufführung ist das Lächerliche einer solchen Kasten-Gesellschaft klar. Viel mehr kommt dann aber auch nicht, mal abgesehen von der so unvermeidlichen wie vorhersehbar zu Ende gehenden Liebesgeschichte. Ein schwaches Stück, das nur aus einem besteht: aus Ironie, die immerhin hohen Unterhaltungswert hat. Ob es nicht doch mehr kritisches Potenzial entfalten könnte?

Potenzial zu künstlerischer Entfaltung liefert Schöne neue Welt auf jeden Fall und durch die Bank für alle, wirklich alle AkteurInnen, die da auf den Theaterbrettern stehen, gehen, laufen, rennen. Bei aller Kritik am Stück selbst: der Regie kann man nirgends vorwerfen, die Story nicht fantasievoll und temporeich zu präsentieren - mit tollen Stimmen und groovendem Orchestersound ausgestattet. Hier schöpft das Regie-Team quasi „aus dem Vollen“, choreografiert jeden einzelnen gesungenen Satz, jedes Wort, jede Silbe mit sprechenden Gesten, übersetzt sie fast wie in Gebärdensprache. Virtuos! Was höchste Ansprüche stellt an die Umsetzung durch die Solisten und den Chor, was perfekt gelingt. Auch die Koordination zwischen Gesang und Theaterjugendorchester, das sich unter Leitung von Kapellmeister Thorsten Schmid-Kapfenburg im Hochform zeigt, gelingt bestens.

Was bleibt nach der vortrefflichen TJO-Premiere? Der Riesenspaß an einem sehr engagiert und inspiriert arbeitenden Ensemble, das zwei Stunden lang eine nette, vielleicht nicht mit dem (auch) gebotenen Ernst ausgestattete Geschichte zeigt.

 

Die Akteure des TJO:

Kelly Alves, Schirin Badafaras, Jonas Bauhaus, Sina Fels Miranda, Zuri Gusejnova, Antonia Hubrich, Matilda Kohnen, Sara Movahedian, Magdalena Munde, Raja Lücke, Til Ormeloh, Annalena Pruhs, Hanna Pulpanek, Ronja Reese, Lucia Regenbrecht, Konstantin Schumann, Sarah Schlüter, Mia Sprick, Joana Taskiran, Simon Wellner, Pia Wensing, Anna Westermann, Sönke Westrup, Olivia Zessin