Zweikampf ungleicher Brüder
Zwei Treppen, in der Mitte ein Fahrstuhl und ein Raum mit dem Charme eines Wartezimmers - nüchtern bis aseptisch ist das Bühnenbild, das Timo Dentler und Okarina Peter da schaffen. Sieht so etwa der perfekte Rahmen für eine turbulente Operette aus? Aber ja! Das beweist Nadja Loschky in ihrer Inszenierung von Orpheus in der Unterwelt. Sie entfaltet ein irres Treiben von Menschen und Göttern, die im Olymp eine Art Online-Handel mit menschlichen Wünschen betreiben - Paketversand inklusive. Gemanagt wird das Ganze von Juno, die zudem noch ein Auge auf ihren Göttergatten Jupiter haben muss, der allzu gern mit attraktiven menschlichen Frauen anbandelt. Dieses Mal soll es Eurydike sein, die ihm aber sein Bruder Pluto streitig machen will.
Nadja Loschky legt den Schwerpunkt ihrer Beobachtungen eher auf die menschlichen Schwächen der Handelnden, auf Lust und Laster. Sie verzichtet dafür weitgehend auf gesellschaftspolitische Spitzen. Das ist legitim, manchmal jedoch ein klein wenig schade. Doch dieses klitzekleine Manko macht das Team wett durch eine herrlich überbordende Bilderflut voller witzig-detailreicher Ideen, die unglaublich viel Spaß ins Geschehen bringen, Figuren mit all‘ ihren Eitelkeiten beleuchten. Gekrönt wird all das durch die wunderbar-leichtfüßige Textfassung voller kleiner Anzüglichkeiten. Die bringt‘s wirklich voll (um das mal leger zu sagen)! Mit diesem Text sind Regisseurin Loschky, Dramaturgin Anne Christine Oppermann und dem musikalischen Leiter Gregor Rot ein wahrer Volltreffer gelungen. Herzlichen Glückwunsch! Man braucht kein Prophet zu sein, um zu prognostizieren, dass sie sicher in künftigen Inszenierungen dieses Stücks verwendet werden wird.
„Der Gedanke der Operette ist Rausch, aus dem Gedanken geboren werden; die Nüchternheit geht leer aus. Dieses anmutige Wegspülen aller logischen Bedenken...“ Dieser kurze Auszug aus einem Text des großen Kritikers Karl Kraus wird im Programmheft zitiert. Und diese wenigen Worte Karl Kraus‘ scheinen das Credo des Regieteams gewesen zu sein. Loschky und ihre Mitstreiter zeigen das von Kraus beschriebene Wesen der Operette. Sie beleuchten wirre Handlungsstränge, lassen ihnen ungezügelt ihren Lauf. Und dann wird der scheinbare Wildwuchs wieder eingefangen und zusammengeführt. Loschky hat alles im Blick, strafft nirgendwo die Zügel - eine wohldosierte „Zügellosigkeit“, die Jacques Offenbach sicher gefallen hätte, ganz in seinem Sinn gewesen wäre, betrachtet er seine Figuren doch immer mit Augenzwinkern, kritisiert ihre Vorlieben und Unarten. Dabei wird er aber nie hämisch oder vernichtend. Und so geht auch Loschky mit Offenbach um. Das zu erleben macht ganz großen Spaß.
Und auch musikalisch lässt die Produktion keine Wünsche offen. Orpheus in der Unterwelt ist ein Ensemblestück, das vom Zusammenwirken vieler Akteure abhängig ist. Das gelingt in Bielefeld prächtig. Hagen Enkes Opernchor kommt nicht nur sanges- sondern auch spielfreudig daher. Herausragend komisch Vladimir Lortkipanidze und Dumitru-Bogdan Sandu als Paketboten in einem Pas de Deux in rosa Tutus. Quasi das komplette Solistenensemble wirft sich mit Verve in die Darstellung der olympischen Götter und allen gelingen höchst individuelle Charakterzeichnungen.
Katja Brenner alias Juno ist eine Göttermutter, die überall ihre Augen hat und der nichts entgeht. Herr über das Geschehen ist aber Thomas Wolff als John Styx, der, über das menschliche Wesen philosophierend, das Personal mit Fingerschnipp lenkt.
Daniel Pataky erweist sich als sauguter Geiger, hängt aber als Orpheus am Rockzipfel seiner Mama. Die gibt Orsolya Ercsényi (als Ersatz für Offenbachs „öffentliche Meinung“) willensstark. Cornelie Isenbürger ist Eurydike. Jung und durchschlagskräftig ist ihr Sopran, mit dem sie Abenteuer und Befriedigung einfordert.
Im Mittelpunkt dieser Inszenierung aber steht das um Eurydike buhlende Brüderpaar. Das wird verkörpert durch die Bielefeld-Wien-Connection: Alexander Kaimbacher ist der Obergott Jupiter, eitel und geil. Seinen Bruder Pluto gibt Lorin Wey wunderbar listig im Schafsfellmantel. Er wird begleitet von einer superben Gruppe von Klon-Schafen, die alle natürlich Dolly heißen. Kaimbacher und Wey singen ganz ausgezeichnet.
Echten überbordenden Offenbach-Sound produzieren punktgenau die Bielefelder Philharmoniker unter ihrem Kapellmeister Gregor Rot. Am Ende ist das Publikum ganz aus dem Häuschen. Und man darf sicher sein: Das Ding wird ein Kassenschlager in Bielefeld.