Everything that happened and would happen im Bochum, Jahrhunderthalle

In Schönheit sterben

Die Jahrhunderthalle wird heute frontal bespielt. Während das Publikum plaudernd Platz nimmt, wird vorne auf dem riesigen Spielfeld noch gewerkelt. In schwarzen Overalls und Handschuhen sind dreizehn Leute - scheinbar Bühnenarbeiter - damit beschäftigt, weiße Tücher von diversen Gegenständen abzuziehen, so dass diffuse Dinge auftauchen, die sich als wahllos im Raum verteilte Requisiten erweisen. Als aber nach einer Weile das Rascheln, Schleifen, Knarren, das man zunächst als Arbeitsgeräusche wahrnehmen mochte, anschwillt, wird klar, dass die Performance längst läuft. Vor einer riesigen funkelnden Sonnenscheibe beginnen die „Arbeiter“ mit riesigen Schläuchen zu wedeln, silberne Souffleusemuscheln zu umtanzen oder große Pappbuchstaben eines fremden Alphabetes auszulegen.

Während man noch versucht, in dem surrealen Treiben einen Sinn auszumachen, erhebt sich im Vordergrund ein Gazevorhang mit hektisch eingespielten Katastrophenbildern untertitelt mit „LAMPEDUSA 20. 9. 2019“. Optisch ist das eindrucksvoll, doch als der Zauber schnell wieder entschwindet, sind all die Kuriositäten dahinter abgeräumt, bevor wir ihren Sinn ausgemacht hätten. Stattdessen erscheinen im Halbdunkel mannshohe Säulen, gleiten von den „Arbeitern“ geschoben zu einem Säulentanz durch den Raum, während eine der Säulen einem Sprecher als Sockel dient. In rasantem Tempo liest er einen englischen Text, in dem die Volksseele des letzten Jahrhunderts beschworen und die Stereotypen beklagt werden, mit denen sich die Europäer untereinander etikettieren. Da haben die Franzosen ihr SAVOIR VIVRE, die Engländer ihr FAIR PLAY, die Deutschen die Hygiene, die Iren ihren Schnaps und die Spanier die Melancholie.

Es gibt keine Übertitel in Deutsch und es braucht schon ein gerüttelt Maß an Konzentration und Vorwissen, um herauszufinden, um was es da geht. Die Triennale-Fans sind zweifellos im Vorteil: Sie identifizieren möglicherweise in den Bildern und Objekten Fragmente aus der Aufführung EUROPERAS 1 & 2, mit der Goebbels und John Cage die Ruhrtriennale 2012 eröffneten. Heute sollen diese ästhetisch gekonnt arrangierten Bruchstücke aus Text, Geräuschen, Bildern, Bewegungen und Gebilden - da rollen noch mit lautem Getöse mannshohe Steinkugeln auf die Bühne - die Zuschauer zu eigenen Assoziationen, Reflexionen und Imaginationen zur jüngeren Geschichte anregen.

Im Programmheft nennt Heiner Goebbels neben der Cage-Inszenierung zwei weitere Werk-Quellen: EUROPEANA von Patrik Ourednik, ein Roman, der die Geschichte in Fragmenten darstellt, sowie die allabendlich kommentarlos im Nachrichtensender EURONEWS erscheinenden Filmsequenzen, die in den Theater-Aufführungen täglich aktualisiert werden. So erscheinen am 25. 8. tatsächlich auf dem unruhig bewegten Gaze-Vorhang schemenhaft überblendete Dokumente zu Hongkong am 24. 8. 19. Goebbels benutzt für seine Arbeitsweise den aus der Musik entlehnten Begriff der Polyphonie, und so stehen Erinnerungssplitter zu Patriotismus und Zivilisationsbrüchen der Weltkriege neben Kolonialismus und Epidemien; die 528 Entwürfe zum Holocaust-Mahnmal neben dem Protest indigener Völker. Das alles in wundervollen Bildern und Choreografien, in permanenter Geräuschkulisse doch - leider - nicht immer verständlich. Bis dann die Sprache versiegt und in lähmender Bedächtigkeit und Ernsthaftigkeit eine gefühlte Endlosigkeit lang Tücher auf- und eingerollt, auf- und abgehängt werden. Eine düstere Ästhetik der Verwüstung, der Absurdität, des Untergangs.

Zum versöhnlichen Abschluss dann ein fast humoriges Textband mit der deutschen Übersetzung eines Ausspruchs aus Ouredniks Roman EUROPEANA, der, wenn auch allseits bekannt, zitiert sein soll: …und 1989 entwickelt ein amerikanischer Politwissenschaftler eine Theorie über das Ende des Weltgeschehens. Doch viele Leute wussten nichts von dieser Theorie und schrieben weiterhin Geschichte, als sei nichts passiert.

SOUNDTRACK DES DESASTERS

Die gesamte Aktion-Licht-Text-Performance ist eingebettet in einen - fast - ununterbrochenen Klangstrom. Fünf instrumentale Aggregate sind rechts und links an den Rändern der Bühnenfläche aufgebaut: Perkussion, Saxophon, Ondes Martenot, Orgel, Gitarre, alle ergänzt mit meist geräuschhaften Klangerzeugern und elektronisch bearbeitet, produzieren einen komplexen Kontrapunkt zu den anderen Schichten des multimedialen Theaters. Live-Musik und Elektronik sind perfekt abgestimmt, die Ensemblemitglieder, internationale Spitzenkräfte in ihrem Bereich, improvisieren, offenbar nach zentralen Vorgaben, auf höchstem Niveau in der Tradition der experimentellen Avantgarde der 1960er Jahre und des Free-Jazz.

Unterschiedliche Charaktere prägen den musikalischen Verlauf: Punktuelle Impulse bilden ein Mosaik heftiger oder lyrischer Klanggruppen. Sie verbinden sich zu Flächen oder geschichteten Bändern, die zum Teil wie - ablaufende - Uhren pulsieren. Abrupte Wechsel von Lautstärke, Klangfarbe und Dichte kontrapunktieren polyphon die Bühnenaktionen. Getragene Phasen mit flötenartigen Figuren, ein etüdenhaftes Saxophonsolo oder ein elegischer, an Olivier Messiaen erinnernder Gesang der Ondes Martenot, eines elektronischen Melodieinstruments der 1920er Jahre, durchsetzen grüblerisch den sonst überwiegend geräuschhaften, hochdifferenzierten Fluss, dem sich die Klänge der Bühnenaktion organisch einfügen und der an die älteren avancierten Arbeiten von Mauricio Kagel oder Krzysztof Penderecki anschließt. Die Klänge wummern, grollen, quietschen, poltern, säuseln, röhren, gemahnen an malträtierte Stimmen oder ächzende Maschinen: leidend, kreatürlich, am Rande der Zerstörung. Der überwiegend im tiefen Register liegende Schall verbindet sich überzeugend mit dem meist abgestuft dunklen Lichtraum der Bühne.

In der Tradition John Cages spielt die Stille eine tragende Rolle im akustischen Geschehen. Während lange Tuchfahnen äußerst langsam über die Bühne gezogen werden, Bergung von Relikten, Verletzten oder Leichen vielleicht, schweigt die Musik ebenso, wie nach der Diskussion über das Berliner Holocaustmahnmal, wenn schwarz verhüllte, denkmalartige Objekte in Zeitlupe im Raum bewegt werden. Die bedrückende Atmosphäre der Trauer wird durch einen schrillen Schrei beendet, der im scharfen Kontrast zu der Prospekten mit zarten Baumsilhouetten aus Cages Europeras steht. Nicht nur bei der Erwähnung des Gaseinsatzes im Ersten Weltkrieg klingt die Musik gebrochen und gefährlich und erinnert an den Soundtrack entsprechender Filme.

Bei aller Vielfalt und Differenzierung im Detail wirkt auch die Musik des Abends eher additiv und auf die Dauer plakativ. Der textliche und szenische Schreckenskatalog wird in gewaltigen Bildern bis zur finalen Apokalypse ausgebreitet und erscheint doch im Verein mit der suggestiven Musik als attraktives Theater-Event über das europäische Desaster, wo am Ende der Dogenpalast auf dem Kopf steht. Es bleibt fraglich, ob die opulente multimediale Faszination wirklich eine kritische (Selbst-) Reflexion befördert.

Nicht alle Zuschauer akzeptierten die Inszenierung, einige gingen vorzeitig und auch in den Applaus mischten sich Buh-Rufe.