Nach den letzten Tagen. Ein Spätstück im Bochum, Audimax

Der Sieg der Musik über Dystopia

Die Ruhrtriennale 2019 lädt zur Eröffnung in das Audimax der Ruhruniversität Bochum ein. Die gewaltige Arena mit 1750 Sitzen um eine große ovale Spielfläche ist heute zweigeteilt: links, vor der mächtigen Klais-Orgel, sitzen die Zuschauer, rechts bleiben die orange bestuhlten Reihen zunächst leer. Auf einer kleinen Galerie ist alles für ein Kammerorchester vorbereitet, mitten im Raum stehen ein aufgeklappter Flügel und ein üppiger Lilienstrauß. Mehr Requisiten braucht’s nicht für das zweieinhalbstündige szenische Projekt. Was mag die Intendantin Stefanie Carp und den Regisseur Christoph Marthaler veranlasst haben, nicht in einer für das Festival so typischen, herben Industrie-Ruinen, sondern in diesem kolossalen Betonbau zu agieren?

Ganz einfach: das Stück hat seine Geschichte.

Bereits 2013 wurde es in Wien im alten Parlamentssaal unter dem Titel Letzte Tage. Ein Vorabend uraufgeführt, kam dann nach Paris und Berlin, bevor es jetzt - in einigen Rollen umbesetzt und gering aktualisiert unter fortgeschriebenem Titel - noch ein wenig österreichlastig - nach Bochum kommt.

Das Audimax imaginiert einen Parlamentssaal, genau genommen ein Welt-Parlament, in dem sich in einer fiktiven Zukunft Parlamentarier zur „Feier des 200. Jubiläums“ der Befreiung der Konzentrationslager versammeln. Doch zunächst sind die Stuhlreihen leer, es herrscht erwartungsvolle Stille, in die hinein ganz leise Klaviermusik von einem weit oben hinter einem Vorhang verborgenen Instrument ertönt, sich seltsam überlagert und wieder verklingt.

Fünf Frauen in Arbeitskitteln mit Putztüchern und Männer mit Clownsmasken tauchen auf, verteilen sich auf den Stuhlreihen und beginnen, sich zu beschimpfen, zu beschuldigen und zur Ordnung zu rufen: offensichtlich sind sie alle nun zu Abgeordneten der suggerierten Zukunft geworden.

Auf der Galerie greifen sechs Musiker*innen zu ihren für ein Sextett ungewöhnlichen Instrumenten, die in ihrer Beliebigkeit an die Zufälligkeiten der Orchester im KZ Theresienstadt erinnern können. Und das weist hin auf das Herzstück dieses ungewöhnlichen Theaterabends: wir werden Musik hören von Komponisten, die die Nazis vertrieben, deportierten und ermordeten. Musik, die teilweise in Theresienstadt entstand. Doch bevor der Abend in seinem zweiten Teil in ein ergreifendes Konzert übergeht, wird die Musik dramaturgisch meisterlich konterkariert von höchst unterschiedlichen Texten, die mal dokumentierten historischen Reden der Vergangenheit und Gegenwart entstammen, mal auch nur (wenig überzeugende) erdachte Banalitäten von heute oder einer fiktiven Zukunft verbreiten. Etwas zu wahllos werden dabei Volkstümelei, Neofaschismus und Nationalsozialismus miteinander verwoben.

Zu leiser Streichmusik erhebt sich ein unscheinbarer Mann in mausgrauem Anzug mit Schlips und Kragen zu einer Begrüßungsrede anlässlich des 200. Jubiläums, wendet sich an den Kaiser von Hohenzollern-Europa (in Wien war das der Kaiser von Habsburg-Europa), erklärt die Ehemalige Europäische Zone zur Unterhaltungsabteilung Asiens und verkündet, dass in naher Zukunft der Rassismus zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt werden solle, nachdem der Antisemitismus ja bereits vor Jahren als Europäische Tradition dazu erhoben wurde. In bieder-behäbigem Ton folgt eine lange (zu lange) Litanei an Rechtfertigungen, die tatsächlich nichts als antisemitische Vorurteile und Verleumdungen abspult: Können wir Christen dafür, dass alle Ärzte, …Fabrikanten… Journalisten … Juden sind?

So Gruseliges diese Aufzählung enthält, sie bringt nichts Neues und man braucht leider nicht 200 Jahre zu warten, bis sich Leute finden, die dergleichen von sich geben. Es folgen - eingeleitet von Volksmusik - Auszüge aus der Rede des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger vom 26. Mai 1894 (das ist kein Tippfehler!) die in dem Fazit gipfeln: Der Antisemitismus wird zugrunde gehen, aber erst, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sein wird. Der Schauspieler Josef Ostendorf spricht diese monströsen Worte so ernsthaft, scheinbar von Sorge beseelt, dass es einem das Blut in den Adern stocken lässt. Bei aufbrausendem Flügel-Getöse kriechen die „Abgeordneten“ auf allen Vieren davon, nachdem sie zuvor kaum Reaktionen zeigten.

Rassistische Zitate aus dem Interview der FPÖ-Spitzenkandidatin Dr. Susanne Winter vom 20.11. 2007 geraten schriller, aber nicht minder beängstigend. Hier muss sich ein Farbiger ganz persönlich verteidigen, er nimmt die Kritik der schwarzen Vernunft von Achille Mbembe zur Hilfe - es bleibt jedoch unvermittelt anachronistisch, ein Stückchen Dokumentartheater in einer eher fiktiv gedachten Bühnenrealität.

Die Szene endet mit raumfüllenden Jodlern und Glockengeläut, später folgen noch Herz-Schmerz- Heimatlieder. (Alles reichlich alpenländisch.) Auf die jammernde Mutter, die ihr Kind nicht mehr in die Schule zu schicken wagt, hätte man verzichten können. Sie bringt eher Kaffeeklatsch-Niveau in das ernste Thema. (Die frei erfundene Texte sowie die Collagen sind von Stefanie Carp.)

Im etwas textlastigen ersten Teil entwirft Marthaler eine beklemmende Dystopie so ganz ohne seinen sonst durchschimmernden Humor. Selbst die in den Flügel gehauenen Fetzen der Beethovenschen Hymne an die Freude oder das Zitat des Münchner Kabarettisten Gerhard Polt: Wir brauchen keine Opposition, weil wir sind schon Demokraten! erschrecken hier nur.

Es folgt der ergreifende, fast rein musikalische Teil, den Marthalers Schauspieltruppe - jetzt ganz in weiß-beige gekleidet - mit einer Choreographie aus kleinsten Bewegungen, gefrierenden Gesten und stummen Schreien begleitet. Erschütternd die Gebärden der Verzweiflung zu Luigi Nonos vom Band eingespielten Auschwitz- Gesängen aus Peter Weiss‘ Die Ermittlungen.

Bildmächtig schließlich die letzte Szene: in schwarzen, bodenlangen Gewändern bewegen sich die Figuren ganz oben im Raum, hoch über den im Halbdunkel verschwindenden Stuhlreihen in Martharlerscher Langsamkeit schattenhaft dunkel aus unserem Blickfeld: Die letzten Tage der Menschheit erfüllt von Musik, die nicht enden will, die kaum mehr hörbar, nur noch zu erahnen, ganz langsam verklingt. Das Publikum hält den Atem an. Am Spätabend der Sieg der Musik.

DIE TRÖSTUNGEN DER MUSIK

Marthalers szenisch-textliches Raumspiel wird zum medienübergreifenden Musiktheater durch eine Klangcollage, die sich den Bühnenaktionen subtil anschmiegt und die Denkpotentiale der Handlungsmomente ergänzt, kommentiert oder überhöht. Der musikalische Schwerpunkt liegt bei Werken und Fragmenten jüdischer Komponisten, die 1941 nach Theresienstadt deportiert und dann in Auschwitz ermordet wurden, z.B. Pavel Haas und Viktor Ullmann, oder in anderer Weise dem Rassismus der Nationalsozialisten zum Opfer fielen. Uli Fussenegger hat die Originalnoten aufgespürt und für eine Sextettbesetzung mit Violine, Viola, Kontrabass, Klarinette, Akkordeon und Klavier bzw. Harmonium, zum Teil mit Gesang, kongenial bearbeitet. Dieses Ensemble erinnert nicht nur an die instrumentalen Zufallskombinationen, die in Theresienstadt möglich waren, sondern auch an populäre Unterhaltungsformationen, ein ambivalenter Balanceakt, der von den sechs Mitwirkenden und der Sopranistin mit allen Nuancen expressiv und klangschön ausgespielt wird. Zeitweise filtert Fussenegger aus dem Tutti kleinere Besetzungen oder einstimmige Passagen, so dass eine bunte Mischung vielfältiger Farben und Stile entsteht: vom Volkslied über Klezmer, Tango und Jazz bis zur spätromantischen Salonnummer oder freier Atonalität im Gefolge Arnold Schönbergs.

Im ersten, etwa zweistündigen Teil des Abends bilden die musikalischen Aktionen ein loses Netz von Einwürfen, Kommentaren und Klanghintergründen, die sich immer wieder mit den Texten überlagern oder den Ablauf artikulieren und strukturieren, wobei die Ensembleteile von Klaviereinwürfen, a-cappella-Gesang, Orgel und Tonträgereinspielungen in perfekter Ausführung ergänzt werden. Drastische Montagen rassistischer Texte oder chauvinistischer Lieder mit Zitaten aus dem Finalsatz der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven: Freude, schöner Götterfunken..., Alle Menschen werden....(?) vom Klavier und aus dem Schluss der Ouvertüre zu Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg, vorgetragen im Fortissimo der Orgel, demonstrieren, vielleicht überdeutlich, den Gestus der Empörung. Eine andere musikalische Ebene des ersten Teils sind artistische Sprach- oder Gesangscollagen, die sich aus den Texten der Schauspielerinnen und Schauspieler entwickeln, z.B. der virtuose Sprechchor über den Satz : „Wir lassen das“ als Kommentar zur Flüchtlingsproblematik, oder die subtil unauffällige vokale Übernahme der Melodien des vom Sextett gespielten Siegfried-Idyll von Wagner.

Wie die Texte und die szenischen Aktionen erscheinen auch die heterogenen musikalischen Elemente wie objet trouves aus einer unendlichen Fülle von Möglichkeiten. Die Kunst der Regie und der musikalischen Konzeption verbindet diese Versatzstücke durch eine souveräne räumliche, zeitliche und klangliche Dramaturgie zu einer überzeugenden Einheit, z.B. bei Raumbewegungen, Tempoübergängen oder präzisen Tonartverbindungen.

Die letzte halbe Stunde des Abends stellt die Musik in den Vordergrund, als hätte die Sprache, geschändet von den Inhalten, ihre positive Kraft verloren. In einer konzertartigen Verdichtung werden Kompositionen von Szymon Laks, Alexandre Tansman, Pavel Haas, Jozef Koffler, Viktor Ullmann, Erwin Schulhoff, Johann Schrammel und Felix Mendelssohn Bartholdy gespielt: eine Engführung der stilistischen und emotionalen Varietät des ersten Teils. Durch Wiederholung und Kontextualisierung formt sich ein Klang- und Erlebnisraum, den die meist traditionellen Musiken mit einem begriffslosen Empfindungsinventar füllen, dessen Zauber man sich kaum entziehen kann. Gleichzeitig realisieren die nun neutral, annähernd gleich gekleideten Bewegungsakteure eine räumlich und gestisch ungemein sensible stumme Choreographie, die zwischen Musik und Auditorium andeutend, aber intensiv vermittelt. Musikbezogen ohne simple Verdopplung entstehen Bilder individueller Freiheit, zarter Kontakte, entspannter Gruppierungen, in die ansteigenden Sitzreihen des großen Saals Linien und Felder schwebender Ruhe zeichnend. Im Zentrum dieses minimalistischen Tanzes steht die Einspielung der elektronischen, auf Vokalklängen basierenden Komposition Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz - „Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz angetan haben“ - von Luigi Nono aus dem Jahre 1966: zugleich Gedenken an die Opfer und Appell an die gesamte Menschheit. Dieses Werk, unvergleichlich in der Dialektik von Grauen und Sehnsucht nach Schönheit, wird von den Akteuren in erstarrter Haltung mit weit geöffneten Mündern verfolgt: Entsetzen, Hingabe und Lähmung angesichts des Unfassbaren. Danach Posen und Bewegungen der Unsicherheit, der Angst, der Verzweiflung.

Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend stellt existenzielle Fragen, auf die die Texte keine Antworten geben. Die Gegenüberstellung von Heimatlied und Meistersinger-Vorspiel im ersten Teil des Abends deutet vielleicht auf eine Verbindung von Rausch und Dummheit als kollektiven Bewusstseinsdefekt hin, und man kann an Theodor W. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ (1950) und seine „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (1967) denken. Bis zum verlöschenden Abgesang mit Mendelssohns Chor Wer bis an das Ende beharrt aus dem Oratorium Elias erscheint die Musik im zweiten Teil als zerbrechlicher, aber beredter Hinweis auf die Möglichkeit eines Besseren.

Bevor die Stimme Gottes das Drama Die letzten Tage der Menschheit (1922) von Karl Kraus mit den Worten abschließt: „Ich habe es nicht gewollt.“ stehen die Verse: „Der Sturm gelang. Die Nacht war wild./ Zerstört ist Gottes Ebenbild!“ Nach den letzten Tagen haben sich Europa und die Welt nicht erholt, die Aussichten sind dunkel. Der Abend von Christoph Marthaler lässt gleichwohl einen Trost ahnen: die gebrochene Schönheit der Musik.