Der kalte Klammergriff des Nichts
Die Tatortreiniger kommen. Durch eine auffallend dicke Tür betreten drei Männer einen düsteren Bunker. Altmodische Duschen an den Wänden, Metallgitter auf dem Boden. Die Fliesen verschmiert von einem Schmutz, über dessen Herkunft man nicht nachdenken möchte. Wie verbissen sich die Männer auch mit Schrubbern und Desinfektionsmitteln zu schaffen machen, diesen Ort des Grauens bekommen sie nicht rein. In allen Ritzen finden sie Haare, ziehen immer größere Büschel hervor, ein nasses, verfilztes Tauwerk ausgelöschter menschlicher Existenzen.
Dergestalt hebt der ungarische Filmemacher und Regisseur Kornél Mundruczó an, das berühmte Requiem des ungarischen Komponisten György Ligeti für die Ruhrtriennale in Szene zu setzen. Diese Totenmesse, entstanden in den Jahren 1963 bis 1965 im Auftrag des Schwedischen Rundfunks, ist eines der anspruchsvollsten Chorwerke der Gegenwart, surreal tönender Ausdruck der nackten Angst vor Tod und Weltuntergang. Die Musik ist eindringlich, drastisch, aber mit einer Länge von 30 Minuten keineswegs abendfüllend. Mundruczó benutzt das Werk daher als Ausgangspunkt, um in einem Triptychon davon zu erzählen, wie sich das Trauma von Auschwitz über Generationen hinweg auswirkt.
Von der im KZ geborenen Éva, ihrer in Berlin lebenden Tochter Léna und deren Sohn Jonas erfahren wir bei der Uraufführung dieses Stücks, dessen Text von der schon lange mit Mundruczó im Team arbeitenden Dramatikerin und Drehbuchautorin Kata Wéber stammt. Ligetis Requiem erklingt nur zu Beginn komplett, exzellent aufgeführt von den Bochumer Symphonikern und dem Staatschor Lettland unter der Leitung von Steven Sloane. In den beiden folgenden Teilen wird die Partitur zum Soundtrack, auszugsweise zitiert, um die zerstörten Biographien zweier Frauen und die ungewisse Zukunft eines Kindes zu untermalen.
Live-Kameras filmen Lénas Besuch bei ihrer Mutter Éva, übertragen das Geschehen aus einer für das Publikum zunächst kaum einsehbaren Wohnung auf Leinwände. Grandios, was die Schauspielerinnen des 2009 von Mundruczó gegründeten Proton Theaters hier leisten. Lili Monori zeigt als Éva Anzeichen von Demenz, bevor sie im Gespräch über die Vergangenheit zu großer Statur wächst. Bevor sie sich als Überlebende erweist, deren Seele sich so vernarbt wie ehrfurchtgebietend darbietet. Annamária Láng rebelliert als Tochter vehement, aber vergeblich gegen das Gewicht, das ein unmenschliches Schicksal ihrer Mutter verliehen hat.
Dieser Mittelteil, der nach der Vergangenheit die Gegenwart beleuchtet, ist trotz einiger melodramatischer Momente der wohl stärkste des dreiteiligen Abends. Wir sehen zwei Frauen, die von den Schatten der Vergangenheit schier erdrückt werden: resigniert und ruhig die Mutter, nervös und kämpferisch die Tochter. Sohn Jonas gehört das dritte, in die Zukunft weisende Bild. Mundruczó und sein Team bringen dafür einen Zeittunnel aus Laserstrahlen auf die Bühne, beschwören die Weiten des Universums, dessen Wunder Ligetis Musik ja schon in „2001 - A Space Odyssey“ von Stanley Kubrick vorzüglich begleitete.
Während Jonas und seine Freunde im Bühnenvordergrund mit ihren Smartphones chatten, schreitet der Chor aus dem Bühnenhintergrund langsam nach vorne. Was aber ist von dieser Jugend zu sagen, die nur mehr virtuell kommuniziert? Jonas drückt rasch den Anruf seiner Mutter weg. Er ist beschäftigt mit seinen Freunden, die ihn per WhatsApp mit Anspielungen auf den Sabbat, auf braune Massen und auf die Angst vor Zügen und Zugfahrten hänseln. Wie Jonas sich dazu verhält, bleibt unklar. Er reagiert kaum. Ist er verärgert? Schockstarr? Oder macht er gute Miene zum bösen Spiel, weil er dazugehören will? Wir erfahren es nicht. Schweigend auf ihre Displays starrend, stehen er und seine Freunde auf und verlieren sich im Dunkel.
Ein gespenstisch schönes, aber auch beliebiges Schlussbild, nach dem manche Frage offenbleibt. Inwiefern darf Auschwitz dazu benutzt werden, ein Festivalpublikum zu unterhalten, wenngleich auf denkbar makabre Weise? Warum sagt Éva, die das mörderische Regime der Nazis mit knapper Not überlebt hat, sie habe Stalin geliebt? Warum lautet der Titel des Stücks Evolution, wo die Vergangenheit doch über Generationen hinweg jede Entwicklung einzufrieren scheint?
Überlassen wir das Schlusswort der Musik. György Ligeti hatte bei der Komposition seines genialen Requiems die Opfer des Ungarischen Volksaufstands im Sinn, die toten Widerstandskämpfer. Seine äußerst komplexe, raffinierte Partitur mit ihren Klangschichtungen und dem teils 20-stimmigen Satz ist eine Herkulesaufgabe für jeden Chor und jedes Orchester. Es ist ein Ereignis, wie der Staatschor Lettland und die Bochumer Symphoniker sich von der erschreckenden Düsternis der Bässe zu den eisigen Höhen im Sopran voran arbeiten. Wie Musiker und Sänger in kreiselnden Klangbildern einen Weltuntergang beschwören wie auf den grotesken Gemälden eines Pieter Brueghel oder eines Hieronymus Bosch. Yeree Suh (Sopran) und Virpi Räisänen (Mezzosopran) katapultieren sich als Solistinnen in schier stratosphärische Register.
Schade und unverständlich, dass der wunderbar intonationssichere Chor im Schlussapplaus nicht nach vorne treten durfte. Denn er und das Orchester waren es, die uns die tiefschwarzen Töne der Beklemmung und Todesangst haben spüren lassen, den kalten Klammergriff des Nichts.