In zeitloser Gegenwart
Von der Industriehalle der monumentalen Kraftzentrale im Duisburger Landschaftspark ist eine Art Foyer abgeteilt und während wir auf Einlass warten, bieten sich uns in eleganten, von innen erleuchteten Museums-Vitrinen höchst seltsame Exponate zur Betrachtung an: so etwa eine leicht demolierte Überwachungskamera, eine reichlich zerrissene Jeans, ein Stück zerbrochener PC- Tastatur , ein dickes Knäuel vermutlich unentwirrbarer farbiger Drähte und einiges mehr, alles leicht versandet und eher Abfall, als Ausstellungsstück. Eine Mitarbeiterin gibt uns einen Tipp: Es sind Fundstücke des Jetzt aus der Zukunft betrachtet. Das bedeutet, dass wir uns soeben im Loop der Geschichte befinden – und wer die Eröffnungsaufführung von Marthalers Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend miterlebte, ist ja schon eingeübt in den Blick aus der Zukunft auf Gegenwart und Vergangenheit.
Dann dürfen wir in die große Halle, die heute wie ein „richtiges“ Theater wirkt: mit Orchestergraben und leicht erhöhter Bühne, auf der ein riesiges Haus – oder Zelt? – nur aus Streben aufgebaut ist. Seitlich bleibt etwas Platz für kleine, nach hinten geschobene Nebenräume, die wir allerdings nur einsehen können, wenn sie später von der Livecam ausgeleuchtet werden.
Im Haus geht das Licht an und wir sehen im hinteren Teil des großen Raumes zwei Figuren im Sand knien. Als die Kamera ihr Bild groß an die Rückwand wirft, erkennen wir, dass beide wallende antike Gewänder tragen und mit archäologischer Achtsamkeit etwas aus dem Sand herauslösen. Etwas verwirrend ertönt dazu aus dem Orchestergraben hochmoderne Musik mit fast schrillen Tönen der Elektrogitarre, die aber dann ganz behutsam von den Streichern in sanfte Barockklänge überführt werden. Faszinierend gleich zu Beginn das virtuose Zusammenspiel der unterschiedlichen Musikgenres, basierend auf Purcells Barock-Komposition (Orchester Opéra de Lyon).
Da erleben wir im Auftakt ein Mikrodrama des Ganzen.
Der aus Ungarn gebürtige Regisseur David Marton komponiert eine Musiktheater-Collage aus der barocken Oper Dido und Aeneas von Henry Purcell und glänzenden Kompositionen des zeitgenössischen Musikers Kalle Kalimas, der selbst bei der Aufführung die E-Gitarre spielt und exponiert auf erhöhtem Sitz in weißem Anzug für das Publikum gut sichtbar ist. Auch der Ursprungstext von Vergil und ein Soloauftritt der Allround-Künstlerin Erika Stucky werden geschickt eingebaut und bringen die ursprünglich einstündige Oper auf mehr als zwei Stunden Spielzeit, wobei in der Tat ständig mit der ZEIT gespielt wird.
Wie sonst könnten die beiden antiken Gestalten, die sich bald als die griechischen Götter Juno und Jupiter outen (Marie Goyette und Thorbjörn Björnsson), ein zerbrochenes Handy und eine PC-Maus an einer endlos langen Schnur aus dem Sand ziehen. So wird Gegenwart zugleich zu Vergangenem und Zukünftigem. Doch das Engagement der von uns ja bereits tot geglaubten Götter bezieht sich keineswegs auf das von ihnen recherchierte Hier-und-Jetzt, sondern was sie da weiterhin ausgraben, erweist sich als tragische Liebesgeschichte von Dido, Königin von Karthago und dem Trojanischen Königssohn Aeneas, der seine zerstörte Heimat verließ, um in Jupiters Auftrag das zukünftige Römische Reich zu gründen. Während die kraftvolle Dido (Alix Le Saux) ihr Lieben und Leiden bis in den Tod kraftvoll ausspielt, bleibt der Aeneas des Guillaume Andrieux eine blasse Figur, die auch durch stimmliche Präsenz nicht recht Kontur gewinnt.
Großartig der Chor Opéra de Lyon, der zunächst unsichtbar aus der Hinterbühne erklingt, dann im Live-Video erscheint um schließlich in einem ergreifenden Bild als Marsch der Geflüchteten in dunkler Kleidung vorne am Bühnenrand, dem Publikum ganz nahe, vorüberzieht.
So wird die Aufführung, diese Collage des Erinnerns und Vergessens, weniger als Liebes-Tragödie denn als Erinnern an das zeitlose Schicksal der Entwurzelten nachwirken.