Geschwätz statt Grusel
Weil ein paar Engländer sich 1816 während eines Schlechtwettersommers am Genfer See langweilten, – unter ihnen der Dichterfürst Lord Byron – erzählten sie sich zum Zeitvertreib Gruselgeschichten. Bei dieser Gelegenheit erfand Mary Shelley die schaurige Mär vom Wissenschaftler Viktor Frankenstein, der aus Leichenteilen ein Wesen zusammenflickt, das die Autorin im Untertitel den „modernen Prometheus“ nennt. Nicht gegen die Götter begehrt der zombiehafte Riese nach seiner Erweckung auf, wohl aber gegen seinen Schöpfer. Bald schon richtet sich sein Zorn gegen alle Menschen, weil es von diesen nur Verachtung und Grausamkeit erntet.
Ist diese Kreatur von Beginn an ein Monster? Oder wird sie erst dazu gemacht? Ist Viktor womöglich auf der Flucht vor einem gefürchteten und daher abgespaltenen Anteil seiner eigenen Persönlichkeit? In der jüngsten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters fallen die Antworten so vorhersehbar wie langweilig aus. Frankenstein des 1971 in Hamburg geborenen Komponisten Jan Dvorák, bei der Uraufführung im Mai 2018 in der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel noch als Weiterentwicklung einer Adaption einer Schauspielproduktion angekündigt, tritt uns nach einer Überarbeitung des Komponisten nunmehr als „Oper in vier Akten“ entgegen.
Das ist stramm behauptet, hört man die ausdrucksarme Partitur, die keine dramatischen Zuspitzungen kennt. Die zwar zuweilen laut wird, aber keine Höhepunkte erreicht. Das mit Streichern besetzte Kammerorchester, angereichert mit viel Schlagwerk und einem Geräuschemacher, vermittelt trotz Beschallungsanlage kaum Spannung und wenig Emotion. Was das Programmheft als „bewusste Pluralität der Stile“ verkaufen will, klingt vielmehr nach Flickwerk, zusammengesetzt aus Anleihen bei einer gemäßigten klassischen Moderne, beim Musical à la Lloyd Webber, bei großen Opernarien und bei vokalisierenden Chören à la Maurice Ravel. Kapellmeister Giuliano Betta und die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen mühen sich vergebens, dem Leben einzuhauchen. Hinzu kommt ein so geschwätziges wie melodramatisches Libretto, das die Geschichte zunächst aus der Sicht des Monsters, dann aus der Viktors erzählt.
Für die neu eingerichtete Puppenspielsparte des Theaters, die mit Frankenstein nicht nur ihren Einstand geben, sondern auch gleich die Eröffnung der aktuellen Spielzeit stemmen muss, erweist sich diese Stückwahl als Unglück. Dabei schindet die zwei Meter große Puppe, die in einem anatomischen Theater zum Leben erwacht, durchaus Eindruck mit ihren künstlichen Knochen, Muskeln und Sehnen.
Gunther von Hagens „Körperwelten“ scheinen Pate gestanden zu haben für dieses 15 Kilogramm schwere Monster, das mit choreographischem Können geführt wird von Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen Huene. Sie und Anastasia Starodubova, Absolventinnen der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, geben dem Monster eine Stimme: oft stöhnend und ächzend, dann zunehmend unisono deklamierend, als seien sie ein griechischer Chor.
Indessen steht der hohe Ton der Tragödie, wie so vieles an diesem Abend, befremdlich quer zur kindlichen Erzählweise dieser „Oper“. Regisseur Sebastian Schwab, der in Gelsenkirchen auch die Steampunkoper Klein Zaches realisierte, hat im Einheitsbühnenbild von Britta Tönne sichtlich Schwierigkeiten, die Abfolge der 16 Szenen zusammenzuhalten. Das Abenteuer, das von Ingolstadt über Genf und die Orkney-Inseln bis zum Nordpol führt, bleibt bei Schwab eine Etappentour. Szenen enden ohne Anschluss, weil die Regie das Licht ausdreht, bevor sie den Faden wieder aufnimmt. So tappen die Darsteller im Dunkeln, bis es weiter gehen kann.
Bunt leuchten dafür die Neonröhren, die von Schwab in verschiedener Funktion eingesetzt werden: mal als glühende Holzscheite, mal als Lichtschwerter, zuletzt gar als leuchtender Kranz über dem Haupt von Elisabeth, die bei ihrer Hochzeit mit Viktor als Trashversion von Englands Virgin Queen Elisabeth I. auftritt. Da muss sich der Bräutigam denn auch bald in seinen Zylinder übergeben. Es ist zum Gruseln, jedoch auf andere Weise als erhofft. Die oft ausladenden, grotesk überzeichneten Kostüme von Rebekka Dornhege Reyes lehnen sich an die düstere Gothic-Jugendkultur an.
Das engagierte Gesangsensemble wird angeführt von Piotr Prochera als Viktor Frankenstein und Bele Kumberger als Elisabeth Delacey, die in weißem Nachthemd und mit roter Haarflut einer Schwester der Melisande gleicht. Sie singen und agieren auf gewohntem Niveau. Urban Malmberg ist kein Vorwurf dafür zu machen, dass seine Partie als Brautvater für ihn viel zu tief liegt, um nicht in einen geknurrten Sprechgesang zu verfallen. Als geisterhafte Stimmen des Unbewussten sollen die Chorsolisten einen spukigen Fernklang erzeugen, stehen ansonsten aber wie Statisten herum.
Dass mancher Platz im Parkett schon bei der Premiere leer blieb, verheißt für diese Produktion nichts Gutes. Das haben die von Intendant Michael Schulz so herzlich willkommen geheißenen Puppenspielerinnen eigentlich nicht verdient.