Der Fluch der Abstraktion
Igor Strawinsky, das ist der Meister der metrischen Komplexität. Durch ihn emanzipierte sich der Rhythmus von allen übrigen musikalischen Parametern. Mit seinem Ballett Le Sacre du Printemps stürmte er brachial in die Moderne des noch jungen 20. Jahrhunderts. Diese „Bilder aus dem heidnischen Russland“ kamen einer Revolution gleich, beglaubigt durch Vorwärtsdrängen, stampfende Archaik und maschinenhafte Ostinato-Technik, alles getragen von einem mächtigen Orchesterapparat. Mit Blick auf den Rhythmus lässt sich durchaus sagen: Hier entwickelte Strawinsky einen Prototypen, der sein zukünftiges Schaffen maßgeblich beeinflusste. Mehr noch gilt, dass kaum ein Komponist der jüngeren Generation an dieser Setzung vorbeischreiben konnte.
Kaum hatte sich das Sacre von seiner tumultuösen Uraufführung erholt (1913), tüftelte sein Schöpfer bereits an einem Stück, das neben manchen Gemeinsamkeiten in seiner musikalischen Disposition und Wirkung als krasses Gegenteil gelten kann. Wieder blickte Strawinsky auf das alte Russland, diesmal allerdings in Form einer „Tanzkantate“ – Les Noces (Die Hochzeit) wurde in einem komplexen Schaffensprozess erst 1923 vollendet. Herausgekommen ist ein äußerst stilisiertes Werk, Kind einer neuen Sachlichkeit. Strawinsky selbst sprach von der „Präsentation tatsächlichen Hochzeitsmaterials“, abgeleitet aus russischen Volkstexten. Gedacht ist diese Feier als szenische Zeremonie, fernab einer dramaturgischen Sinngebung.
Solche Forderungen bringen jedes Theater in ein großes Dilemma. Das Ritual, wenn auch gesungen und getanzt, unterfüttert allein durch diverses Schlagwerk, also durch höchst vertrackte, perkussiv-rhythmische Variabilität, bedarf der unbedingten Abstraktion. Eine Herkulesaufgabe für jede Regie, die das Publikum mit ins Boot nehmen will. Im besten Fall, so sah es Strawinsky, gelingt dies durch Erzeugung einer magischen Starre.
Ähnliches gilt für sein Opern-Oratorium Oedipus Rex, geschrieben 1926/27. Auch hier verweist schon die Gattungsbezeichnung auf Probleme der Aufführungspraxis. Und erneut formulierte der Komponist seine Vorstellungen: kein Agieren untereinander, die Figuren wenden sich dem Publikum zu, sollen wirken wie lebende Statuen. Es gibt entsprechende Regieanweisungen – sie lassen ein Bild entstehen, das Assoziationen wecken mag an Robert Wilsons Stilisierungskunst. Das Stück um König Oedipus, der unwissend den Vater (Laios, den alten König von Theben) gemordet und die Mutter geheiratet hat, der sich blendet, als die Wahrheit durch seine Nachforschungen ans Licht tritt, entstammt ganz der Welt des Archaischen (verstärkt nicht zuletzt durch die überwiegende Verwendung der lateinischen Sprache).
Hut ab also vor jedem Theater, das sich der Herausforderung stellt, diese Werke auf die Bühne zu bringen. Die Oper Wuppertal hat nun gar beide Kompositionen nebeneinander gesetzt, einerseits in nicht ungeschickter Verklammerung, zum anderen aber etwas bemüht in Form einer in die Moderne gewendeten Handlungsebene. Will heißen: Les Noces zeigt als Prolog des Oedipus‘ Vermählung mit seiner Mutter Iokaste, und im Oedipus Rex kommt ein Kommissar dem Verbrechen auf die Spur. Zweifellos ist dies der Versuch des Regisseurs Timofey Kulyabin, dem Publikum einen Hauch Krimispannung zu bieten – mit indes mäßiger Wirkung. Eher kryptisch denn sinnstiftend ist zudem die szenische Behauptung, Oedipus habe von Beginn an alles gewusst, und am Ende seine Blendung nur vorgetäuscht.
Das von Strawinsky eingeforderte Rituelle und Formelhafte erfüllt sich vor allem im Hochzeitsgeschehen. Der Chor, von Vlada Pomirkovanaya bunt folkloristisch eingekleidet, schafft Magie durch bewegungslose, wie eingefrorene Tableaus, scheint sonst aber kaum einer ausgeklügelten Choreographie zu folgen. Weit mehr ergeht sich das hohe Paar mit bedächtigen Gesten im Zeremoniellen. Die oft munteren volksliedhaften Einschübe, gesungen etwa von Ralitsa Ralinova (charmant und voller Esprit), sowie die dauernde perkussive Unruhe, von den Schlagzeugern des Wuppertaler Sinfonieorchesters punktgenau serviert (Leitung: Johannes Pell), liefern dazu wirkmächtige Verfremdungseffekte.
Oleg Golovko hat dazu einen anfangs spärlich eingerichteten Festsaal gebaut, der sich im Oedipus Rex mit vielen Tischen und Stühlen zum Versammlungsraum weitet. Aufmerksamkeit wecken zudem drei wabenförmige Räume, die eine obere Etage bilden. Links das in Goldtönen gehaltene Gemach der Iokaste, inmitten eine kitschig-kultische Erinnerungsstätte, Memento an den kleinen Oedipus, und rechts das Verhörzimmer des Kommissars. Gregor Henze darf den eiskalten, etwas zynischen Aufklärer spielen, zugleich jedoch den von Strawinsky vorgesehenen Sprecher dieses Opern-Oratoriums. Ein Kunstgriff, der bestenfalls einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Unter den Thebanern lässt es die Regie teils mächtig krachen. Handgreiflichkeiten, affektgeladene Ausbrüche oder spöttische Gesten stehen unliebsam im Kontrast zu den oft repetitiven Gesangsstrukturen, den rezitativischen Wendungen, den orthodox-liturgischen Einschüben. Andererseits repräsentiert der Chor durch archaische Wucht das flehende, zaudernde, anklagende Volk. Und auch Sopranistin Almuth Herbst kann in ihrem großen opernhaften Auftritt, geprägt von melismatischer Lyrik sowie arioser Dramatik, eine nahezu statuarische Würde verkörpern – in geschmeidiger Stimmführung, mit behutsam gesetzten Leidenschaftsspitzen.
Tenor Mirko Roschkowski setzt als Oedipus markant tenorale Stärke dagegen, bisweilen fehlt ihm jedoch der frei fließende Lamento-Tonfall. Trefflich singen zudem Simon Stricker (Kreon), Sebastian Campione (der blinde Seher Teiresias) und als Hirte Sangmin Jeon. Stets durchhörbar bleibt das Orchester, pendelnd zwischen figurativen und komplex rhythmischen Elementen, in Anlehnung an Strawinsky zumeist in kommentierender Funktion. So erweist sich diese Produktion als nur bedingt gelungener Versuch, die Quadratur des Kreises zu bewältigen, in höchster Abstraktion lebendiges Theater zu formen. Da hat der Komponist wohl recht: Das hat etwas mit Magie zu tun.