Das Ende eines sehr langen Lebens
Wenige Farben leuchten auf Dieter Richters Bühne, wenige auch in Nicola Reicherts Kostümen. Eher düster ist die Welt, in der sich der gefeierte Opernstar Emilia Marty bewegt: eine Anwaltskanzlei wie ein großer Zettelkasten, eine triste Bühnenrückwand in einem Theater und ein schokoladenbraunes Hotelzimmer - keine Umgebung, die wirklich geschaffen ist für wahre Leidenschaft ob Hass oder Liebe. Und obwohl sie 330 Jahre Leben hinter sich hat, sucht sie doch letztlich ohne wirklichen Enthusiasmus hier nach dem einen Rezept, dass ihr noch einmal die gleiche Anzahl an Jahren schenken würde.
Dietrich W. Hilsdorf inszeniert Leos Janáceks Die Sache Makropulos und sein Fixstern ist Emilia Marty. Die für eine Oper eigentlich recht spannende und stringente Geschichte nutzt er als Vehikel für ein intensives Figurenportrait. Und rund um den Bühnenstar gruppiert Hilsdorf die anderen Figuren, die er als Charaktere weitgehend außer acht lässt, aber in Beziehung zur Hauptperson setzt. Dadurch entsteht nach und das intensive Bild einer Frau, die massiv des Lebens überdrüssig ist. Nichts kann sie mehr aufregen, reizen und Emotionen in ihr wecken. Auch die Suche nach der lebensrettenden Urkunde wirkt nur noch wie der letztlich ermüdende Versuch, noch einmal etwas Aufregung und Ungewissheit in ihr Leben zu bringen. Denn gerade des Jahrhunderte währenden Liebesgeplänkels mit ach so vielen Männern - nur eine Liebe gab es in ihrem langen Leben - ist sie ja so überdrüssig. Und diesen Überdruss, ja Ekel zeigt Hilsdorfs Die Sache Makropulos in allen Variationen: Der junge Janek Prus wird von ihr zurückgewiesen, zieht sich in eine stille Ecke zurück und erschießt sich. Das ist rührend, traut er sich doch nicht an belebterer Stelle. Ihr direkter Nachfahre verliebt sich und droht den Verstand zu verlieren. Für ihn hat Emilia kein Mitleid. Im Laufe der Jahrhunderte liefen schließlich viele „von meinem Gezücht“ herum. Und Jaroslaw Prus, der als Lohn für das gesuchte Dokument eine Liebesnacht erhält, beklagt sich, dass sie eine leblose Geliebte sei, die sich auch dann noch ungerührt die Haare kämmt, als er vom Selbstmord seines Sohnes erfährt. Durch klare Bilder zeichnet Hilsdorf ein ebenso klares Bild der unheimlichen Sängerin, das ihm in Gelsenkirchens Musiktheater im Revier aber auch wegen seiner Darstellerin Petra Schmidt so überaus fantastisch gelingt. Scheinbar unnahbar, überlegen zu Beginn, wandelt sich Schmidt von der Femme fatale ohne Mitleid zu einer Frau, die ständig zu frieren scheint und genug hat vom Leben und der Liebe. Die finale Lebensbeichte und ihren Selbstmord gestaltet Petra Schmidt mit einer stimmlichen Intensität, die kaum zu beschreiben ist. Permanent bewegt sie sich auf einem ganz schmalen Grat zwischen rational begründetem Überdruss und totaler innerer Leere. Das ist einfach nur großartig und sicher einer der bisherigen Höhepunkte ihrer nunmehr zehn Jahre am MiR. Chapeau!
Und das übrige Ensemble stand ihr in sängerischer Qualität und verdienten darstellerischen Meriten in nichts nach. Gerard Farreras, Karla Bytnarová und Rina Hirayama in den kleinen Rollen kommen souverän daher wie auch Khanyiso Gwenxane als verliebter Junge. Joachim G Maaß und Timothy Oliver als Rechtsanwalt und Gehilfe gelingen ihre Rollen ebenso überzeugend. Lina Hoffmann singt die Krista sehr frisch und muss darstellerisch die Sache Makropulos schlichtweg herunterwürgen, damit sie ein für alle Male aus dieser Welt verschwindet.
Urban Malmberg zeigt als Jaroslav Prus stimmlich hervorragend Selbstekel nach der Liebesnacht und tiefe Trauer um seinen Sohn, während Martin Homrich als Albert Gregor strahlend schön unheimlich zugleich die Nähe von Liebe und Wahnsinn, wie es sie bisweilen gibt, beglaubigt.
Ein Publikumsliebling aber ist Mario Brell, der mit dreiundachtzig Jahren anrührend und stimmlich bestens disponiert zeigt, dass es für Liebe eben nie zu spät ist.
Die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann offenbart am Premierenabend ein paar Koordinationsprobleme in der Umsetzung der diffizilen Partitur, die sich sicher bei den späteren Vorstellungen beheben lassen. Das Premierenpublikum erweist sich als beeindruckt!