Der Phantast in der Zeitmaschine
Die Zeitreise beginnt, als Lindorf sich die Jeans auszieht. Olympia, Antonia und Giulietta, zuvor fröhlich mit Kartenspiel beschäftigt, helfen ihm beim Umkleiden. Sie reichem dem Stadtrat eine schwarze Hose und einen langen Ausgehrock, wie er anno 1907 für Männer in Mode war: mithin im gleichen Jahr, in dem die Choudens-Guiraud-Fassung von Jacques Offenbachs unvollendeter Oper Hoffmanns Erzählungen entstand.
In dieser Version ist das Stück nun am Theater Hagen zu erleben, wo Intendant Francis Hüsers versucht, den Fünfakter um den großen Phantasten in ein Simulationsspiel der drei Damen umzudeuten. Sie sind bei ihm keineswegs Ausgeburten von Hoffmanns dichterischer Imagination, sondern Frauen von heute. Absichtsvoll begeben sie sich in die Vergangenheit, wo eine nach der anderen versucht, den Poeten zu verführen.
Warum das Experiment des Perspektivwechsels in Hagen gründlich schiefgeht, sei weiter unten ausgeführt. An erster Stelle steht das Staunen über die unerschrockene Manier und die musikalische Kompetenz, mit der das kleine Theater den großen Repertoirebrocken stemmt. Natürlich steht und fällt jede Hoffmann-Produktion mit der extrem anspruchsvollen Titelpartie, die vom Tenor Kraft und Eleganz verlangt, dazu Höhensicherheit, Ausdrucksstärke quer durch alle Gemütswelten und Dauerpräsenz über fünf Akte hinweg.
Mit dem Österreicher Thomas Paul hat das Haus einen Sänger verpflichtet, der dem Dionysiker viele kraftvolle Spitzentöne gibt, ohne zu klotzen. Nicht Phonstärke, sondern französische Eleganz steht bei ihm im Vordergrund. Dass Hoffmann auch Poet ist, demonstriert er durch eine reiche Stimmungspalette, die von verliebter Schwärmerei bis zu zerknirschter, ja galliger Verzweiflung reicht. Nicht immer fällt es dem Tenor leicht, die emotionale Hochspannung der Partie zu halten. Dafür beschenkt er die Hörer mit einigen sublimen Piano-Spitzen, die zart aufblühen wie in der Blumenarie des Don José.
Die Entscheidung, die Binnenakte auf drei verschiedene Sängerinnen aufzuteilen, ist für das Hagener Theater eine glückliche. Jede der Damen bringt Vorzügliches zustande: Cristina Piccardi, als Olympia eine Gesangsmaschine von aseptisch lächelnder Stewardessen-Schönheit, serviert Koloraturen mit erheblicher Vokalartistik und steuert manche Spitzentöne sogar ein paar zusätzliche Höhenmeter in die Stratosphäre. Angela Davis zeichnet die fatale Gesangsleidenschaft der Antonia in lyrisch-dramatischen Bögen nach, durch die obendrein noch mädchenhafte Farben leuchten. Netta Or singt die Kurtisane Giulietta mit einer schmeichlerischen Glut, an der alles Berechnung ist. Maria Markina, die als Muse/Niklausse in schwarzem Leder über die Bühne stiefelt, ist Hoffmann eine stimmlich wandlungsfähige Gefährtin: mal warm und mitfühlend, mal höhnisch spottend. Dong-Won Seo leiht den eigentlich für Bariton gesetzten Partien von Lindorf, Coppélius, Miracle und Dapertutto die nachtdunklen Farben seines Basses.
So ließe sich fortfahren mit vielen liebevoll gestalteten Nebenpartien sowie mit Chor und Extrachor des Theaters Hagen, die sich stimmlich gut in Form zeigen, obschon sie von der Regie oft recht steif stehengelassen werden. Wer Offenbachs Oper liebt, kann sich am Premierenabend auch deshalb genüsslich zurücklehnen, weil das Philharmonische Orchester Hagen unter der Leitung von Joseph Trafton den Esprit der Partitur bis in die feinen Äderchen erfasst. Was da so leicht, so flott, so flirrend und rhythmisch federnd aus dem Graben klingt, entbehrt nie der Tiefe, sondern paart Eleganz mit Geist und Liedhaftes mit Raffinesse. Selbst die funkelnde Barkarolen-Seligkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter aller Heiterkeit die Dämonen des Grusel- und Gespenster-Hoffmanns schlummern.
Wo das Orchester uns spüren lässt, dass Offenbachs zauberhafte Klangtableaus durchaus über gefährlichen Abgründen schweben, treibt Francis Hüsers dem Stück die Phantastik aus, indem er das Element der Zeitreise ins Spiel bringt. Alle Figuren sind bei ihm reale Menschen: Dadurch geht die Spannung zwischen Wahn und Wirklichkeit verloren, die Hoffmanns Erzählungen schillernden Reiz verleiht.
Obwohl Olympia, Antonia und Giulietta stets zu dritt auf der Bühne präsent sind, wird keineswegs deutlich, dass sie Hoffmann erschaffen oder inszenieren. Auch Parallelen zu Thomas Manns Zeitroman „Der Zauberberg“, die Hüsers entdeckt zu haben glaubt, bleiben bloße Behauptung. Dass der Chor kollektiv Fieberthermometer zückt und Antonia – wie Thomas Manns Taugenichts Hans Castorp – gern vor dem Grammophon verweilt, reicht als Legitimierung nicht aus. So sind in Hagen Ansätze von Ideen zu sehen, die nicht weiter ausgeführt und erst recht nicht zu einem schlüssigen Konzept verknüpft werden. Das ist jammerschade.