Jüdisches Leben als Tanz vor dem Abgrund
In der Historie der Gattung Musical ist Anatevka eher früh zu verorten. Die Entstehungszeit liegt weit vor der Periode, in der Andrew Lloyd Webber die Ära der serienmäßigen Fließband-Produktion stromlinienförmiger Stücke einläutete. Aber auch im Jahre 1965 war ein Musical, das in einem Juden-Pogrom im zaristischen Russland endet, äußerst ungewöhnlich. Scheinbar „leichte Muse“ und dann noch ohne Happy-End. Der viele Jahrzehnte andauernde Erfolg gab Komponist Jerry Bock recht für seinen Mut und sein Gespür bei der Auswahl des Sujets. Und dennoch bleibt jede Inszenierung von Anatevka immer ein Seiltanz, um nicht Kitsch und Rührseligkeit anheim zu fallen.
Alle Klippen umschifft Nilufar K. Münzing mit ihrer Inszenierung am Theater Münster auf das Allerbeste. Sie legt ihren Fokus natürlich auf Tevje, den Milchmann. Der steht exemplarisch für das Leben der Juden im großen Zarenreich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit seiner Lebensweise steht er für die traditionell lebenden Juden. Er weiß, dass Traditionen den Rückhalt im täglichen Leben bedeuten. Sie sind gerade dann identitätsstiftend, wenn das jüdische Leben von Außen angefeindet und bedroht wird. Tevje ist aber auch klar, dass Einflüsse und neue Dinge nicht aufzuhalten sind. Und so gestattet er seiner Tochter Zeitel eine Liebesheirat. Seiner anderen Tochter Chava eine Ehe mit einem Nicht-Juden zu gestatten, so weit geht er aber nicht. Tevje ist ein Mann voller Brüche, aber deshalb unheimlich liebenswert. Das zeigt Münzing gerade auch, in dem sie den anderen Figuren Gestaltungsspielraum gibt und die Regisseurin sie sich an Tevje spiegeln lässt .
Das zeigt aber auch bravourös Gregor Dalal, der als Milchmann nicht nur stimmlich glänzt, sondern sich auch darstellerisch sehr differenziert zu präsentieren weiß. Dalal ist ein echter Glücksgriff für diese Rolle und die Regisseurin tut recht daran, ihn zum Dreh- und Angelpunkt dieser Inszenierung zu machen.
Bernhard Niechotz schafft für das Dorf Anatevka Umrisse aus Zaunlatten, die sowohl interne Geborgenheit wie auch ein Gefängnis symbolisieren können. Oder einfach eine Umfriedung, die aber vor äußeren Einflüssen nicht wirklich schützt.
Hier lebt und liebt die jüdische Glaubensgemeinschaft, die Joseph Feigls Chöre lebensfroh verkörpern - insbesondere Tevjes Familie. Ehefrau Golde ist das Rückgrat der kleinen Einheit. Suzanne McLeod verkörpert sie mit Inbrunst.
Melanie Spitau, Kathrin Filip und Finn Samira sind die Töchter, die für ihre Liebe kämpfen und ihren unterschiedlichen Männern folgen. Sie tun das auch stimmlich mit viel Emphase. Die fördern auch ihre Männer zutage. Die sind noch schüchtern, versuchen aber ihrem allgegenwärtigen zukünftigen Schwiegervater Paroli zu bieten. Das gelingt vor allem Pascal Herington als Schneider Mottel mit balsamischer Beharrlichkeit, während Emil Schwarz und Patrick Kramer eher Unerfahrenheit und jugendliches Ungestüm offenbaren. Verhindert hat Tevje die Ehe seiner Ältesten mit Lazar Wolf, den Christoph Stegemann als selbstbewussten reichen Witwer gibt.
Stefan Veselka leitet das Sinfonieorchester Münster mit leichter Hand durch Jerry Bocks mal melancholische, mal lebenssprühende Melodienbögen, die Jason Franklins Tänzer kraftvoll zu illustrieren wissen. Diese Mischung begeistert das Premierenpublikum.
Wenn an Ende die Darsteller sich ihrer Kostüme entledigen, ist nicht nur das Ende des Stücks gekommen, sondern auch ein Teil jüdischen Leben in Russland zerstört. Von jetzt auf gleich. Der Vorhang fällt.