Lieber zurück ins Paradies?
Eines gleich vorweg: in Peter Eötvös‘ Oper Paradise Reloaded (Lilith) möge sich niemand setzen, der sich nicht zuvor gründlich mit dem Werk auseinandergesetzt hat! Denn es erzählt eine ziemlich verwickelte, auf den ersten, ja auch den zweiten Blick reichlich undurchdringliche Geschichte, die niemandem „geläufig“ sein dürfte. Welche Geschichte? Die von Lilith, der ersten Frau des ersten Menschen Adam - wie er vom Schöpfergott aus Lehm geformt. Also als gleichberechtigte Person. Und es geht um die Geschichte von Eva, der zweiten Frau Adams - biblisch ein aus der Rippe Adams geschaffenes Wesen. Da fangen die Probleme schon an!
Rasch kommt Lucifer ins Spiel, der gefallene Engel mitsamt dreier ebenso gefallenen Himmelswesen. Lucifer schließt mit Adam eine Wette ab und verordnet ihm eine Zeitreise durch die Menschheitsgeschichte. In deren Verlauf wird sich das verheißungsvolle göttliche Projekt „Mensch“ als das herausstellen, was es faktisch ist oder wozu es geworden ist: zu einem „Miteinander“ von vermeintlichen Individuen, die sich einander bekämpfen, die von Gewalt, Krieg und Gleichmacherei geprägt sind. Der Mensch als Krone der Schöpfung? Eher das genaue Gegenteil! Darauf wettet Lucifer. Und dies alles erleben wir auf der Opernbühne.
Lilith ist die selbstbewusste Frau, die Adam zurückerobern will. Die Adam animiert, Eva zu töten. Die mit der Menschheit offenbar noch mal von vorn beginnen und sie zu etwas Besserem machen möchte. Und sich Lucifers als Kompagnon vergewissert, als Verbündeten. Denn dieser hält Gott für einen Looser, dessen Projekt Mensch definitiv gescheitert ist. Die (ernüchternde) Reise durch die Menschheitsgeschichte beginnt, sie blickt auf Mord, Unterdrückung, Auslöschung von Individualität… - was zwischendurch alles passiert, ist mitunter grotesk und kaum referierbar. Schlussendlich überzeugt Eva, die von Adam ebenso wie Lilith Geschwängerte, den Gatten davon, im Paradies zu bleiben.
Alles in allem eine verstiegene, in den Personenkonstellationen oft verwirrende Angelegenheit! Oper für Fortgeschrittene, möchte man sagen. Musikalisch ganz fabelhaft ersonnen. Peter Eötvös‘ Musik ist voller Imagination, erzeugt ein Kaleidoskop aller erdenklicher Farben, evoziert Emotionen. Die setzt Regisseur Wolfgang Nägele in sehr greifbare Bilder um. Ohne üppige Kulisse, eher nackt wie das Urmenschenpaar Adam und Eva. Gregor Rot am Pult der Bielefelder Philharmoniker schlägt aus der Partitur Funken immer dort, wo sie angebracht sind (vor allem bei den Blechbläsern), kann mit samtweichem Streicherteppich aufwarten und leitet ein Solistenensemble auf der Bühne, das für Paradise Reloaded mehr als 150 Prozent gibt: Veronika Lee als durch und durch koloraturen- und höhensichere Eva, Nohad Becker als selbstbewusst-gebieterische Lilith, Lorin Wey als extrem geforderter Adam, Frank Dolphin Wong als diabolischer Lucifer. Sie alle sind am Premierenabend in absoluter Höchstform. Eine Sternstunde des Gesangs im Theater Bielefeld! Sekundiert von formidablen Engeln und Orakeln (Seung-Koo Lim, Caio Montero, Enrico Wenzel, Christin Enke-Mollnar, Franziska Hösli, Orsolya Ercsényi) - nicht zuletzt von den Bielefelder Philharmonikern. Das Publikum war - trotz dieser „schweren Kost“ - begeistert. Der anwesende Komponist Peter Eötvös nicht minder.
Gleichwohl: Das Stück ist und bleibt ein absolutes Mirakel. Die Handlung erschließt sich bis zum Ende nicht wirklich und man fragt sich, aus welchem Grund uns Eötvös und sein Librettist Albert Ostermaier sie uns erzählen. Und dennoch faszinieren Bühnengeschehen und Musik zutiefst.