Orlando Paladino im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Liebeswirren im englischen Pub

Mit seinem Vers-Epos vom „Rasenden Roland“ ironisierte der in Ferrara lebende Dichter Ludovico Ariost 1516 einen mythischen Stoff über das mittelalterliche Heldentum. Sein Abgesang auf jene Ritterliteratur, die auch dem Don Quijote von Cervantes den Kopf verdrehte, hatte großen Einfluss auf die italienische Literatur, hinterließ seine Spuren im französischen Theater und auch bei William Shakespeare. Friedrich Schiller verglich Ariost gar mit Homer.

Das Musiktheater hat dem fabulierfreudigem Meisterwerk etliche Opern abgewonnen, zum Beispiel Jean-Baptiste Lullys Roland, Antonio Vivaldis Orlando furioso, Georg Friedrich Händels Orlando sowie seine nachfolgenden Werke „Ariodante“ und Alcina. Joseph Haydn wurde durch die Vorlage zu seiner einst erfolgreichsten Oper inspiriert: In seiner Semiseria Orlando paladino begegnet uns der Wüterich als Pfalzgraf, der seine Eifersucht nicht im Zaum hat.

Die Handlung spielt eigentlich im 9. Jahrhundert auf einer Insel im Indischen Ozean. Weil das Libretto von Badini aber in einer Osteria beginnt, nahm die niederländische Regisseurin Jetske Mijnssen sich die Freiheit, das Liebeskarussell in eine englische Kneipe zu verlegen. In einer Übernahme vom Opernhaus Zürich ist ihre Lesart der Geschichte jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater zu erleben, das die Produktion einerseits als „ideales Stück für Opern-Neulinge“ bewirbt, sie andererseits aber nur bis Ende Februar zeigt.

Im englischen Pub, dem Bühnenbildner Ben Baur eine charmante Patina verleiht, deutet ein von vier Säulen umrahmtes Podest mit Oberlicht die Inselsituation an. Darum herum wird nach Kräften geliebt, gestritten und gelitten. Bereits während der Ouvertüre schickt die Regie das Paar Angelica und Medoro in eine Wiederholungs-Schleife: Sie turteln und streiten in der immer gleichen Reihenfolge, schweigen sich an, laufen auseinander, um sich letztlich doch zu versöhnen. Das Auf und Ab in der Liebe zu zeigen, deren Wechselfälle wir oft zu ernst nehmen, ist hier wichtiger als die Frage wer mit wem.

Es dauert freilich seine Zeit, bis sich die Figuren eindeutig zuordnen lassen. So liebevoll Haydns Musik und die Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes sie auch charakterisieren, liegt zunächst der Irrtum nahe, Rodomonte (Petro Ostapenko) aufgrund seines stürmischen Auftretens für den Titelhelden zu halten. Aber der platzt erst viel später herein. Der Tenor Martin Homrich gibt ihn als rothaarigen Feuerkopf, als beleibten Berserker mit unberechenbaren Affektwechseln und hyperventilierendem Beben in der Stimme. Er hält den Antihelden mächtig unter Dampf, neigt stimmlich zwar zuweilen zur Überzeichnung, lehrt aber gerade auf dieser Schneide zwischen Singen und Brüllen das Fürchten.

Fabelhaft unter Zug bleibt Haydns Oper auch Dank des Dirigats von Werner Erhardt, der die Neue Philharmonie Westfalen zu sprühend lebendigem Musizieren animiert. Was da aus dem Orchestergraben klingt, hat nicht weniger Esprit als Mozarts Così fan tutte und ahnt sogar den stammelnden Stupor voraus, in den Rossinis Figuren in Momenten größter Verwirrung fallen. Wie witzig Haydn sein konnte, führt uns Pasquale vor, wenn eitel die eigenen Gesangskünste lobt und die Musik dies ironisch kommentiert. Der Tenor Tobias Glagau kostet diese Persiflage mit Lust aus.

Das Ensemble, das sich sängerisch durchweg gut und geschlossen präsentiert, wird im zweiten Akt mit Doppelgängern aus der Statisterie in die Wiederholungsschleife geschickt. Die stummen Begleiter sollen deutlich machen, was sich im Unterbewusstsein der Figuren abspielt: ein Schachzug, der Vergnügliches ins Spiel bringt. Die von Lina Hoffmann herrlich lasziv angelegte Zauberin Alcina, eine Hohepriesterin des Pendels und der Tarotkarten, greift gelegentlich in die Irrungen und Wirrungen ein.

Schade, dass Orlando kurz vor seiner Heilung noch so ausgiebig mit einer Pistole herumfuchteln muss. Statt in der Unterwelt von Lethewasser zur Räson gebracht zu werden, steigt der Fährmann Charon (Gerard Farreras) mit einem Putzeimer aus dem Bühnenboden und knipst ein nüchtern helles Licht an. Dann drückt die Regie den Reset-Knopf: Die Anfangsszene mit Angelica und Medoro geht in die dritte Runde. Der kurzweilige, wenn auch nicht in emotional tiefere Gefilde vordringende Opernabend endet mit einem scheinbar einfachen Rat: „Wenn ihr glücklich sein wollt, liebt immer den, der euch aufrichtig liebt.“