Mit dem Gabelstapler durchs globale Dorf
Laut rumpelnd rutschen Pakete über eine Rampe. Von einer höher gelegenen Luke in der Wand sausen sie hinab auf die Bühne der Oper Wuppertal. Die ist bei der Uraufführung des experimentellen Stücks Chaosmos von Marc Sinan zugleich Logistikzentrum und Zuschauerraum. Hier führen die Arbeiter Jay und Joe das Wort und das Kommando. Zuweilen lenken sie - mit erheblichem Geschick - einen echten Gabelstapler, zum Transport der Pakete. Sie scannen Lieferungen ein und sortieren sie in Regale.
Vor Kopf sitzen die Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Wuppertal auf Tribünen. Der beengten Platzverhältnisse wegen muss sich der Pianist samt Konzertflügel unter eine Treppe quetschen. Bevor die Zuschauer im Rechteck um die Spielfläche Platz nehmen dürfen, werden sie durch enge, dunkle Gänge auf die Bühne geschleust und aufgefordert, Plastikordner voller Notenblätter in ein Regal einzuordnen. Von hier aus liefert „das System“, bestehend aus vier roboterhaft agierenden Sängerinnen und Sängern in Blaumännern, die Partiturteile an die Orchestermitglieder aus.
Das ist der interaktive und daher variable Teil der neuen Oper des deutsch-türkisch-armenischen Komponisten Marc Sinan, der mit Chaosmos seinen Beitrag zum Start eines neuen Förderprogramms des seit 2006 bestehenden Fonds Experimentelles Musiktheater leistet. Unter dem Titel „NOperas!“ unterstützen das NRW Kultursekretariat und die Kunststiftung NRW Formate, die mehr Kooperation zwischen den Stadttheatern und der freien Szene anstreben. Partner innerhalb des ersten Dreijahres-Zyklus sind die Opernhäuser Wuppertal und Halle sowie das Theater Bremen.
Der Name ist dabei Programm: Die „NOperas!“ sind keine Musiktheater-Stücke im tradierten Sinne, sondern innovative Projekte, die von einer Spielstätte zur nächsten wandern und dabei weiterentwickelt werden. In Chaosmos hat die Partitur von Marc Sinan zuweilen Schwierigkeiten, sich gegen die Bildmacht der Videos von Konrad Kästner und den dazu eingesprochenen Texten von Tobias Rausch zu behaupten. So zufällig, wie Jay und Joe sich Pakete herausgreifen und deren Inhalt überprüfen, pickt das Produktionsteam verschiedene Geschichten auf, die angeblich nur durch wahllose Muster miteinander verbunden sind - also eigentlich durch nichts.
So erfahren wir per Videoprojektion von den Ordnungsprinzipien des Naturforschers Carl von Linnée, von Kolonialgebieten in Afrika, vom Chaos des Vietnamkriegs und der Geschichte des Hochseecontainers. Es sind Erzählungen aus dem globalen Dorf, begleitet von Musikfragmenten, zuweilen von Schauspiel-Episoden kontrapunktiert. Jay und Joe streiten zunehmend darum, ob sie sich dem System unterordnen oder lieber dagegen aufbegehren sollen. Spätestens, wenn die Existenz eines ominösen „Zentralplans“ Gegenstand ihrer Diskussionen wird, beginnt es im Raum nach Kapitalismuskritik zu riechen. „Glotzt nicht so betroffen“, ätzt ein Schriftzug in Abwandlung des berühmten Postulats von Bert Brecht, wenn eine Episode den Fund einer vietnamesischen Mädchenleiche im Container schildert. Mit welchem Ziel aber wird diese Story aufgetischt, wenn nicht, um Betroffenheit zu heischen?
Hoch ist der Aufwand für die kleine Produktion. Die komplexe Koordination von Musikern und Gesangsensemble übernimmt nicht etwa ein Dirigent, sondern sie wird von einer DJ-Software organisiert. Als „das System“ müssen Wendy Krikken (Sopran), Iris Marie Sojer (Mezzosopran), Adam Temple-Smith (Tenor) und Timothy Edlin (Bassbariton) nicht nur abgezirkelte Bewegungsmuster vollführen, sondern ihren Kehlen auch streng definierte Klangereignisse abverlangen. Das gelingt ihnen Dank hoher Konzentration und bemerkenswerter Disziplin. Auch die Mitglieder des Wuppertaler Orchesters engagieren sich sicht- und hörbar für diese Uraufführung.
Das von Regalen und Paketen dominierte Bühnenbild strahlt naturgemäß nicht viel mehr Charme aus als ein Möbellager. Dazu passen die Plastikstühle und Baseballcaps von Jay und Joe, jene Ordnungsfanatiker, die allmählich immer stärker mit dem Chaos sympathisieren. Annemie Twardawa und Rike Schuberty verleihen ihnen einen schnoddrigen, zunehmend wütenden und schließlich ratlosen Ton. Für den geringen Nährwert mancher Dialoge, die sich sprachlich oft an einen vermeintlich jugendlichen Slang anbiedern, können sie nichts.