Selbstbetrug führt zur Katastrophe
Es sind die sogenannten „kleinen“ Leute, deren Leben Ödön von Horváth Raum und Stimme gibt in seinen Stücken. Er lässt ihnen Platz und Zeit, sich zu artikulieren - immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Realitäten und politischer Gegebenheiten. Die indes spielen in Der jüngste Tag nur bedingt eine Rolle. Hier geht es vielmehr um ein übergreifendes Phänomen, das wohl alle von uns kennen: Wer hat sich nicht schon einmal dabei ertappt, wie er sich im Alltag selbst belügt? Im Gegensatz zu unseren - mal mehr, mal weniger bedeutungslosen - Lügen, enden in Der jüngste Tag diese aber unausweichlich in einer Katastrophe.
Da ist der bedeutungslose Bahnbeamte Thomas Hudetz, ein kleines Rädchen in der Eisenbahn-Funktionskette, der einmal vergisst, ein Signal zu stellen. Achtzehn Menschen sterben daraufhin bei einem Zugunglück. Da ist die Wirtstochter Anna. Die flirtet kurz mit Hudetz und lenkt ihn so von seiner Arbeit ab. Später schwört sie einen Meineid und behauptet, Hudetz habe das Signal zur rechten Zeit bedient. Und auch Anna belügt sich: Es war kein schneller Flirt. Sie liebt Hudetz schon lange. Und da ist Frau Hudetz. Sie ist dreizehn Jahre älter als ihr Mann. Und beobachtet diesen Flirt mit ihren eigenen Augen. Wie gesagt: Der Kuss kostet achtzehn Menschen das Leben! Genau weiß sie, dass ihre Ehe ein Fehler war - von vornherein. Das aber gesteht sie sich nicht ein.
Und so entsteht ein Dampfkessel von unterdrücken Emotionen, der am Ende explodieren muss: Anna schwört ihren Eid, der sie in existenzielle Gewissenskonflikte stürzt. Frau Hudetz sagt die Wahrheit über das Unglück - mit dem Ziel, ihren Mann zu vernichten. Und Hudetz selbst lässt sich tragen und belügt sich weiter: „Ich war doch immer ein pflichtbewusster Beamter.“ Der Kessel aber brodelt weiter: Anna gesteht Hudetz ihre Liebe. Der bringt sie während ihrer „Verlobung“ um und begeht am Ende Selbstmord.
Der Komponist Giselher Klebe ist vor zehn Jahren gestorben. Im Jahre 1980 wurde seine Oper Der jüngste Tag uraufgeführt. Und er komponiert perfekt die Handlung des Stückes aus. Klebe legt das Stück kammermusikalisch an, ordnet die Musik dem gesprochenen Wort unter, komponiert demütig und dämpft Emotionen auf Horváths Sprache ein - eine perfekte „Literaturveroperung“! Klebe schreibt keine großen Arien. Dennoch schafft er ein dichtes Geflecht von Emotionen.
Jan Eßinger setzt das personalintensive Stück mit allergrößter Übersicht in Szene. Er hat Acht auf jeden einzelnen Akteur und setzt alle perfekt zueinander in Beziehung. So kann jeder Sänger, jede Sängerin sich optimal entfalten.
Das wirkliche Theaterwunder aber schafft an diesem perfekten Opernabend das Bühnenbild von Sonja Füsti. Es ist ein Metallgerüst mit mehreren Ebenen. In die Höhe gebaut, können die Ensemblemitglieder sich in vielen kleinen Kammern bewegen, sich so zueinander verhalten. Das kann man auch als Abbild eines menschlichen Gehirns interpretieren. Dann wird das Ganze wirklich genial! Aber es ist auch so überaus zwingend.
Das Ensemble des Landestheaters ist perfekt besetzt bis in die kleinsten Rollen hinein. Das gilt auch für den Chor unter Francesco Damiani. Im Jüngsten Tagist dies auch eminent wichtig, ist das Stück doch eine Ensemble-Oper.
Lotte Kortenhaus als Kellnerin Leni belegt mit ihrem warmen, mitfühlendem Mezzo wie schon so oft allerbeste Ensemble-Qualitäten. Die beweisen auch Andreas Jören und Brigitte Bauma. Und auch Stephen Chambers als Verlobter Annas macht eindringlich Ansprüche geltend. Unglaublich intensiv singt Emily Dorn die Frau Hudetz - eine bis aufs Mark gequälte Seele. Seungweon Lee ist ein sonorer Vater. Dessen Tochter Anna verleiht Sheida Damghani tiefe Seelenqualen. Diese hören alle auch bei Benjamin Lewis, dessen Hudetz ganz große Qualitäten offenbart.
Hier hatte das Wort Priorität: das beherzigten Lutz Rademacher und die Detmolder Symphoniker. Und ließen Klebes Klänge vor allem Emotionen unterstreichen.
Das Publikum folgte unheimlich konzentriert Klebes Werk. Man fragt sich nach dieser Premiere, warum Der jüngste Tag nicht längst seinen Platz im Repertoire gefunden hat.
Dem Landestheater Detmold gelingt wie schon bei „ Chlestakows Wiederkehr“ im Jahre 2008 eine großartige Hommage an den Komponisten Klebe, dessen Heimat bis zu seinem Tode Detmold war.