Kain und Abel oder Der erste Mord im Essen, Aalto-Theater

Die Suppe nach dem Sündenfall

Nein, eine fröhliche Familienrunde ist dies wirklich nicht. Zu viert sitzen die Eltern und ihre erwachsenen Söhne an einer Tafel, im Speisesaal einer barocken Villa, die einst bessere Zeiten gekannt haben muss. Die Tapeten sind fleckig, das Oberlicht ist verschmutzt, eine Feuerstelle in der Nische hat die Wände verrußt. Freudlos löffeln Adam und Eva, Kain und Abel die Suppe aus, die der Sündenfall ihnen eingebracht hat. Die unterschwellige Spannung bei Tisch ist mit Händen zu greifen. Auf Stühlen an der Wand sitzend, schauen Gott und der Teufel dem hausgemachten Elend seelenruhig zu.

So beginnt im Essener Aalto-Theater eine szenische Aufführung des 1707 komponierten Oratoriums Kain und Abel, mit dem Alessandro Scarlatti das jahrelange Opernverbot des Vatikans unterlief. Nahezu zweieinhalb Stunden lang reiht Scarlatti eine Da-capo-Arie an die andere. Im ruhigen musikalischen Fluss erzählt er, wie es zum ersten Mord der Menschheitsgeschichte kommen konnte. Kain, der Erstgeborene, fühlt sich zurückgesetzt, als Gott seine Bemühungen missachtet, die Opfergabe des jüngeren Bruders jedoch gnädig annimmt.

In seiner nunmehr zwanzigsten Produktion für das Aalto-Theater beweist Dietrich W. Hilsdorf dankenswerterweise, dass es nicht zwingend zu sinnbefreitem Aktionismus auf der Bühne führen muss, ein Oratorium in eine szenische Fassung zu übersetzen. Was oft genug schief geht, gelingt dem 1948 in Darmstadt geborenen Regisseur mit gelassener Meisterschaft. Er benötigt weder Tempo noch Action, noch Videoprojektionen oder Doppelgänger, um den ältesten aller Kriminalfälle als familiäres Psychodrama aufzufächern. Das geschieht wie in Zeitlupe und fesselt doch jede Sekunde.

Hilsdorf spielt die hohe Kunst einer Personenführung aus, bei der jeder Seitenblick, jede Körperdrehung, jede noch so kleine Geste sitzt. Vor allem die oszillierende Mimik des Abel bannt den Blick. In seinem Gesicht spiegeln sich rührende Gutwilligkeit und jugendlicher Eifer ebenso wie die Blasiertheit eines Luxusknaben, der sich nicht ohne Hochmut aller Sympathien sicher ist. Wie der Countertenor Philipp Mathmann diesem Günstling unterschwellig monströse Züge verleiht, ist für sich genommen schon ein Ereignis. Hinzu treten seine - trotz einer vor Vorstellungsbeginn angekündigten Erkältung - glockenhellen Soprantöne, die der Erdenschwere schier davonschweben wollen.

Da muss der Teufel gar nicht viel tun, um Kain aufzuhetzen. Bettina Ranch trägt als Gegenpart zum hell gewandeten Abel einen roten Mantel. Die Mezzosopranistin lädt ihre Stimme mit dem Beben des verhaltenen Zorns auf. Im rechten Moment kann sie aber auch schmeicheln: Kain wartet voller Berechnung ab, bis die Stunde der Rache gekommen ist.

Hellsichtig zeigt Hilsdorf, welches Unheil entstehen kann, wenn Charakterschwäche auf einen Moment der Versuchung trifft. Gott schaut dabei untätig zu, ja er taucht im entscheidenden Moment sogar von der Szene ab. Der katalanische Countertenor Xavier Sabata singt und spielt den Allmächtigen mit köstlich fragwürdigen, mehrdeutigen Nuancen.

Und wie geruhsam süffisant ist der Bassist Baurzhan Anderzhanov als Teufel! Zunächst als veritables Drecksweib im pompös ausladenden Kleid steckend, betrachtet er gelangweilt das Geschehen, bis Gott ihm die Perücke abreißt und ihn zu seiner wahren mephistophelischen Figur entkleidet. Eile bleibt ihm gleichwohl fremd. In größter Ruhe liest er Zeitung und schält im Finale einen Apfel, den er mit zynischem Genuss zerteilt und verspeist. Wozu sich groß anstrengen? Das ist angesichts des vorhandenen Personals gar nicht nötig.

Die Essener Philharmoniker stimmen für den Herrn der Finsternis tutende, animalisch blökende Klänge an. Ansonsten zelebriert das Orchester unter der Leitung von Rubén Dubrovsky prachtvolles barockes Konzertieren und stützt die Sänger in ihren üppig verzierten Arien. Als verhärmte, über die selbstverschuldete Situation verzweifelte Eva ist die Serbin Tamara Banješevic zu erleben. In der Arie „Caro sposo“ zeigt die Sopranistin berührend, dass sie gleichwohl noch Liebe für ihren Ehemann empfindet. Der wird von Dmitri Ivanchey verkörpert, der mit grundsolidem Tenor die Festigkeit und Prinzipientreue des Familienoberhaupts für sich in Anspruch nimmt.

Als Hoffnung auf eine bessere Zukunft bleibt Adam und Eva allein die Aussicht auf weitere Nachkommen. Von einem Erlöser in ferner Zukunft ist gar die Rede. Für Kain spielt das freilich keine Rolle mehr. Nicht der Tod, sondern das Weiterleben ist für ihn die größte Strafe.