Übrigens …

Die Macht des Schicksals im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Der Seelenschmerz der Madonna

Ferngläser und extravagante Hüte fehlen. Aber die Tribüne im Bühnenhintergrund erinnert ein wenig an eine Pferderennbahn. Von dort aus schauen die Damen und Herren des Opern- und Extrachors zu, wie die Hauptpersonen des düsteren Musikdramas Die Macht des Schicksals mit den schier unkontrollierbaren Kräften von Liebe, Standesdünkel, Rache und Kriegslust kämpfen. Im Gelsenkirchener Musiktheater werden die Chöre zu Dauerbeobachtern des Geschehens, zum Spiegel des Premierenpublikums, das Giuseppe Verdis Vierakter hier nicht in der gewohnten Mailänder Fassung von 1869, sondern in einer eigens erstellten Gelsenkirchener Fassung erlebt.

Beherzt haben Hausherr Michael Schulz und der erste Kapellmeister Giuliano Betta die Partitur umgestellt, um dem Werk eine andere Dramaturgie zu geben. Die Szenen von Akt zwei und drei sind neu angeordnet, um die Schicksalswege der drei Protagonisten stärker miteinander zu verschränken. Die Ouvertüre erklingt erst nach dem ersten Akt: mithin nach dem Schuss, der sich versehentlich aus der zu Boden fallenden Pistole des Mestizen Alvaro löst und den Vater seiner geliebten Leonora tötet, was den unerbittlichen Rachefeldzug ihres Bruders Don Carlo nach sich zieht.

Gleich zu Beginn wird Leonora in einer kirchlichen Prozession als Marienfigur, als Mater Dolorosa eingeführt, das Gummiherz von zahlreichen Messern durchbohrt. Beschwörend erklingt dazu der Beginn von Claudio Monteverdis Marienvesper: „Herr, eile, mich zu erretten!“ An zentraler Stelle der Oper montiert das Produktionsteam dann das wirkmächtige „Dies Irae“ aus Verdis Requiem hinein, um der Oper in der Tradition von Hans Neuenfels die Dimensionen eines hochpolitischen Antikriegsdramas zu verleihen.

Ohne den freien Umgang mit Verdis Material tadeln zu wollen, ist es letztlich bezeichnend, dass die apokalyptischen Visionen des „Dies Irae“ und das endlose Geschmetter der im Raum verteilten Blechbläser im „Tuba mirum“ zu den stärksten Momenten des Abends zählen. Michael Schulz begreift Die Macht des Schicksals als eine Vorstufe zum epischen Theater. Aber das erschließt sich erst nach der Lektüre des Programmhefts. Auf der Bühne zu sehen sind abstrakte, pechschwarze Schauplätze, die so karg mit Tischen und Stühlen ausgestattet sind, dass man meinen könnte, der Hausherr wolle seinen Mitarbeitern Kostenersparnis demonstrieren. Schulz will vom Theaterbesucher kritisches Mitdenken statt Einfühlung. Aber wenn er Einzelszenen im Sinne des epischen Theaters montiert, kommt dabei eine Abfolge von düsteren Nummern heraus, die Verdis Absicht eines Ideendrama zuwiderläuft.

Es ist nicht den Sängern anzulasten, wenn volkstümlich bunte Figuren wie die junge Zigeunerin Preziosilla (Khatuna Mikaberizde für die erkrankte Almuth Herbst), der Maultiertreiber Mastro Trabuco (Khanyiso Gwenxane) und der Franziskanermönch Fra Melitone (Piotr Prochera) in dieser Szenerie schattenhaft erblassen. Sie sind mit vollem Einsatz dabei, ebenso wie die von Alexander Eberle einstudierten Chöre, die ihre vokale Wirkungsmacht im „Dies Irae“ und in Preziosillas kriegslüsternem „Rataplan“ entfalten.

Bei Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen ist Verdis Partitur in guten Händen. Der Italiener weiß Kontraste genau zu setzen: Dem düster vorwärtsdrängenden Schicksalsmotiv setzt er immer wieder silberne Hoffnungsstreifen und leuchtende Farben der Leidenschaft entgegen. Zuweilen gibt es sogar Momente einer spritzig-leichten Italianità, bevor die große Trommel im „Dies Irae“ zu wuchtigen Vernichtungsschlägen ansetzt.

Das führende vokale Dreigestirn steigert sich ganz allmählich in seine großen Partien hinein. Nach etwas steifem Beginn findet Timothy Richards als Alvaro, hier übrigens nicht im mindesten als exotischer Mestize kenntlich, immer stärker in den Verzweiflungston eines Mannes hinein, dem das Pech förmlich an den Schuhen klebt. Aufs Äußerste provoziert, lässt er seinen Tenor im Finale von den Klängen resignierter Entsagung glaubhaft in rasende Wut umschlagen.

Naturgemäß sind die nunmehr zehn Jahre, in denen Ensemblemitglied Petra Schmidt in Gelsenkirchen Hauptrollen wie Puccinis Manon und Mimì, Dvoraks Rusalka, Verdis Königin Elisabetta und viele andere gesungen hat, nicht ohne Spur an ihrer Stimme vorbei gegangen. Gleichwohl besitzt sie noch immer genug Kraft und Feuer, um den Seelenschmerz der Leonora in großen Bögen aufflammen zu lassen. Bastiaan Everink ist mit seinem dunkel gefärbten Bariton ein Don Carlo, dessen Rachedurst nachgerade eisernen Ingrimm annimmt.

Das Premierenpublikum reagiert auf dieses Opernexperiment mit freundlichem Schlussapplaus und etlichen herzhaften Buhs für die Regie.