Übrigens …

Orpheus und Eurydike im Theater Hagen

Wundersames im Tunnel der Trauer

Eurydike spricht ins Mikrophon wie in Trance. Vor einem schwarzen Vorhang an der Bühnenrampe stehend, schaut sie in den Zuschauerraum des Theaters Hagen, während die Besucher nach und nach ihre Plätze einnehmen. In resignierter Pose sitzt Orpheus neben ihr auf dem Boden. Gelegentlich versucht er, das Verbindungskabel des Mikrophons zu kappen. Aber Eurydike beachtet ihn kaum, erobert sich Kabel und Sprache zurück. „Mein Anfang gehört mir“, wiederholt sie immer wieder. Um etwas später mit Nachdruck hinzuzufügen: „Mein Ende gehört mir“.

Bereits vor dem Einsatz der Musik zeichnet die 1982 in Gießen geborene Regisseurin Kerstin Steeb ein klares Bild von der weiblichen Hauptrolle aus Christoph Willibald Glucks Oper Orpheus und Eurydike. Hier spricht eine selbstbestimmte Frau, die bewusst in den Freitod geht. Ein feministisch erhobener Zeigefinger liegt der Regie dabei angenehm fern. Vielmehr macht dieser Kunstgriff den riesigen Verlustschmerz von Orpheus ganz besonders verständlich. Zugleich bietet er einen plausiblen Grund, warum Eurydike zögert, aus den Gefilden der Seligen zurückzukehren.

Wenn sich der Vorhang für die Ouvertüre hebt, schreitet Eurydike in einen dunklen Tunnel, an dessen Ausgang sie strahlendes Licht erwartet. Diese einfache, aber wirkmächtige Symbolik wird im Laufe des Stücks durch raffinierte Effekte ergänzt. So führt eine gleitende Rückwand zu verblüffenden Nah-Fern-Wirkungen, die dem Zoom einer leistungsstarken Kamera gleichen. Gespannte Gummibänder bilden den Rahmen des Tunnels und erlauben ein sinnreiches Spiel mit den unsichtbaren Räumen, die dahinter liegen.

Glucks Reformoper, hier in der Fassung der Wiener Uraufführung von 1762 in italienischer Sprache, tritt uns im stark abstrahierten Bühnenraum in bestechend klaren Schwarzweiß-Bildern entgegen. Die Regisseurin beweist Fingerspitzengefühl für das heikle Thema der Trauer. Berührend zeigt sie, wie Orpheus seinen Affekten ausgeliefert ist, dem Schmerz aber zugleich gestaltenden Kunstausdruck zu geben versucht. Für Chor und Sänger findet sie Tableaus und Gesten, die anmutig und natürlich wirken statt steif und gestelzt. Die Idee, den Liebesgott Amor als „Deus ex machina“ vom Zuschauerraum aus eingreifen zu lassen, fällt dem gegenüber ab. Dafür senkt sich alsbald die Deckenkonstruktion, um uns in elysische Gefilde zu führen. Da dürfen schöne Harfen-Soli nicht fehlen.

Licht und Kostüme, Choreographie und Personenführung greifen in dieser Produktion beglückend passgenau ineinander. Hans-Joachim Köster versteht es, das Geschehen mit psychologischem Geschick auszuleuchten. Die Furientänze des Balletts und der bewegungsfreudige Chor des Theaters, der zudem vokalen Glanz beisteuert, bringen viel Bewegung in den oft getragenen Duktus der Musik. Das Philharmonische Orchester Hagen stimmt unter der Leitung von Steffen Müller-Gabriel einen schlanken, von Cembalo-Tönen durchfunkelten Klang an, der noch aus dem Barock kommt, aber den Aufbruch der bis dahin üblichen Schemata hörbar macht. Aufregend Naturalistisches kommt ins Spiel, wenn sich das Tor zur Unterwelt zum Wummern der Trommel öffnet oder wenn das Orchester den über Atemnot klagenden Orpheus mit stockenden Rhythmen begleitet.

Die Partie des Orpheus, die in der bewegten Aufführungsgeschichte dieser Oper schon von Kastraten, Tenören und Altistinnen gesungen wurde, ist in Hagen der Mezzosopranistin Anna-Doris Capitelli anvertraut. Sie erfreut mit klarer Linienführung und einer sehr glücklichen Balance zwischen heftigen Affekten einerseits und würdevoller Gefasstheit andererseits. In die tiefen Regionen eines Alt reicht sie immer wieder und ohne größere Mühe hinab. So ergibt sich durchaus ein Kontrast zum Sopran von Angela Davis, die als Eurydike hell und vital klingt, zuweilen aber auch trotzig auftrumpfen kann. Das starke Duo wird von Cristina Piccardi (Amore) gut ergänzt.

Ob die Regie an ein „lieto fine“ glaubt, neudeutsch Happy End genannt, sei an dieser Stelle nicht verraten. Dass eine Oper über intensive Trauer Glücksgefühle bescheren kann, ist für sich genommen schon ein kleines Wunder.