Ach, ich habe sie verloren
Selbstapplaus kommt für gewöhnlich in der Politik vor: auf Parteitagen zum Beispiel, oder als Egomarketing à la Trump. Im Sport mag er auch als Ansporn dienen. In Gelsenkirchen beginnt nun ein Opernabend mit johlendem Beifall, der nicht etwa aus dem Publikum kommt, sondern von den Akteuren auf der Bühne. Dazu gibt es Verbeugungen, wie sie eigentlich erst am Ende des Stücks zu erwarten wären.
Willkommen bei einer Neuproduktion von Claudio Monteverdis L’Orfeo, der musikalischen Fabel über jenen mythenumwobenen Sänger, dessen Kunst Tote zurück ins Leben zu holen vermag. Geschickt als erste große Zusammenarbeit aller Sparten des Hauses verkauft, kaschiert sie die Not hinter der Frage, wie Oper in Zeiten von Abstandsregeln und Maskenpflicht funktionieren soll. In Gelsenkirchen versucht man, das Dilemma mit einer Bündelung aller Kräfte zu lösen. Federführend ist Ballettchef Giuseppe Spota, der mit seiner Dance Company verhindert, dass Monteverdis Meisterwerk in Posen und Rampengesang erstarrt.
Der Regisseurin Rahel Thiel scheint dabei nicht viel Gestaltungsspielraum zu bleiben. Die Kunst der Personenführung, die sie in ihrer Kammerspiel-Fassung von Tschaikowskys Eugen Onegin eindrucksvoll demonstrierte, kommt durch den gebotenen Schutzabstand kaum zum Zuge. So wandelt Orpheus gemessen, aber einsam über die Bühne. Gesellschaft leisten ihm nur die hölzernen Gliederpuppen von Bodo Schulte, die eine poetische Note ins Spiel bringen und von vier Mitgliedern des noch jungen MiR-Puppentheaters nahezu lebensecht geführt werden.
Das Drama von Leben und Tod zeigen Spota und Thiel sinnfällig als ringförmiges Geschehen, bei dem das Ende den Anfang berührt. Der Kreis des Daseins wird dabei mit einer Langsamkeit durchschritten, die man erhaben finden kann – oder auch behäbig. Da mag manchem die Parodie des Stoffes durch Jacques Offenbach als befreiender Gedanke durch den Kopf flitzen: In seiner Unterwelt wird ausgelassen Cancan getanzt. Hier hingegen bleiben die Götter in zeremonieller Steifheit gefangen. So viel edles Lamento war selten.
Den Körpereinsatz der MiR Dance Company, die trotz Gesichtsmasken alles gibt, kann man hingegen nur bewundern. In den schlichten und doch wundervoll wirkungsvollen Kostümen von Rebekka Dornhege Reyes sind die Tänzerinnen und Tänzer mal dunkle Schattenwesen auf der Schwelle zum Jenseits, mal glitschige Wassergeschöpfe, die mit Tempo über den nassen Boden rutschen und schlittern. Pas de deux dürfen sie nur mit ausgestopften Stoffpuppen tanzen, die in ihren Armen ein geheimnisvolles Eigenleben gewinnen. Der dunkel gehaltene Bühnenraum, den Rebekka Dornhege Reyes sparsam ausgestattet hat, wird durch Vorhänge, Kunstnebel und Lichteffekte zu einer melancholisch-kargen Seelenlandschaft.
Am musikalischen Niveau des Abends gibt es nicht viel zu beanstanden. Unter der Leitung von Werner Erhardt, einem der großen Pioniere der deutschen Originalklangszene, unterstützt die Neue Philharmonie Westfalen Monteverdis Rezitativkunst mit den Klängen von Cornetti (Zinken), Blockflöten und Theorben (Basslauten). Feierlich gelingt die eröffnende Fanfarenmusik. Im weiteren Verlauf mangelt es dann an lebhafter Rhythmik: Liedhaft geschlossene Formen und Choräle fließen oft allzu gleichförmig dahin. Khanyiso Gwenxane singt den Orpheus mit einem hellen Tenor, in dessen schnellem Vibrato sich die Erregungszustände des Titelhelden spiegeln. Ihm steht beinahe das gesamte Ensemble zur Seite, aus dem Alfia Kamalova (La Musica) und Bele Kumberger (Euridice) mit ihren klaren, kultiviert geführten Sopranstimmen herausragen. Als Todesbotin überbringt Lina Hoffmann die schlimme Nachricht mit deutlichen Tönen der Bestürzung und Verzweiflung.
Orfeo bleibt am Ende trostlos, erhält aber Unsterblichkeit. Dann wiederholt sich auf der Bühne der jubelnde Applaus des Anfangs, in den das Publikum nun einstimmen darf. Verbeugung. Vorhang. Aus.