Übrigens …

Hänsel und Gretel im Musikhochschule Münster

Hänsel und Gretel im Prekariat

Ja, so ist es im „Wohlstandsland“: die einen schwelgen im Überfluss, die anderen knapsen herum und leben von der Hand in den Mund. So wie Hänsel und Gretel mitsamt ihren Eltern. Der Junge daddelt wie ein Nerd auf seinem Handy herum, Gretel lernt dank Online-Tutorial coole Tanzschritte am Laptop, während Papa und Mama versuchen, den Mangel in den Griff zu bekommen. Immerhin: ein paar Konservendosen und Tütensuppen konnte Peter, der in Engelbert Humperdincks Erfolgsoper Hänsel und Gretel ein Besenbinder ist, noch einheimsen.

Ganz ordentlich trashig geht es zu in der Inszenierung, die Benedikt Borrmann jetzt als Projekt des Bachelorstudiengangs Gesang in der Musikhochschule Münster herausbrachte. Ohne Publikum und unter strikter Wahrung sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen für alle Beteiligten. Was ihm perfekt gelang! Zusammen mit Borrmanns fantasievoller Ausstatterin Pia Oertel war eine von Bastian Heymel und Hyolim Chi einstudierte Interpretation zu erleben, die mit wenigen Mitteln ganz viel gezeigt hat. Auch ohne jegliche Bühnenmaschinerie, nur mit Plastikfolien, Alu-Dosen, Einkaufstüten und einer Handvoll meterhoher Regale. Letztere quellen über vor Konsumwaren - und sind natürlich das Haus der Knusperhexe Rosina Leckermaul. Die kommt als feenhaftes Wesen daher, in glitzerndes Grün gehüllt und ausgestattet mit meterlangen Armen. Distanz! Hänsel verwandelt sich unfreiwillig in einen Hofhund an der Kette, Gretel mutiert zu einer marionettenhaften Puppe, nachdem sich beide zuvor - „knusper, knusper, knäuschen“ - an den Lebensmittelregalen gütlich getan haben. Hänsel und Gretel im Heute, im Hier und Jetzt.

Und eben unter erschwerten Bedingungen: keine direkten Kontakte der Protagonisten untereinander, kein Orchester, viel Abstand. Und trotzdem: große Oper im Pocket-Format. In keinerlei Hinsicht lässt diese Inszenierung Wünsche offen. Hyolim Chi ist eine grandiose Pianistin mit unglaublicher Sensibilität für Humperdincks süffig-sinfonischer Klang-Atmosphäre, die sieben VokalsolistInnen erweisen sich nicht nur stimmlich sondern auch darstellerisch als ganz fabelhafte KünstlerInnen bis hinein in fein nuancierte Mimik: Carl Ryan als Peter mit raumgreifendem Bariton, Jieun Lee als durchschlagskräftige Mutter Gertrud, Jooyoung Park als bedrohliche Hexe. Christina Schaffer und Katharina Sahmland, beide mit schönem Sopran-Timbre gesegnet, teilen sich die Rollen von Sandmännchen und Taumännchen, Amanda Ellison ist eine durchaus görenhafte Gretel, Marie-Christina Tsiakourma ein umwerfend singender und spielender Hänsel. Großartig und stellenweise geradezu berührend, nicht zuletzt im berühmten „Abendsegen“!

Viel Idealismus, viel persönliches Engagement steckt in diesem Projekt, mit dem die Studierenden einmal mehr Bühnenerfahrung haben sammeln können. Ein wichtiger Aspekt im Hinblick auf die Arbeit als zukünftige OpernsängerInnen! Gut, hier und dort wäre bei der einen oder anderen Solistin noch am deutschen Idiom zu feilen um die Textverständlichkeit zu maximieren… aber an Ausdruckskraft, Dramatik mobilisierten allesamt ihr großes Potenzial.

Zu erleben ist diese Hochschul-Produktion ab Anfang Mai im Youtube-Kanal der Musikhochschule der Uni Münster. Unbedingt besuchen!