Gefangen und verzaubert von nichts als Kunst
Die Ruhrtriennale lädt in den rauen Charme der Kraftzentrale zum Musiktheater. Die dunklen Wände umläuft auf halber Höhe eine Galerie, der Raum ist vollgestellt mit kleinen Drehstühlen fürs Publikum. Mitten drin das Dirigentenpult, von dem aus der Schweizer Dirigent Titus Engel, den Die Deutsche Bühne einmal als „dirigierenden Derwisch“ bezeichnete, alle Akteure sicher durch halsbrecherische Stromschnellen geleitet. Genau das wird er an diesem Abend wieder einmal beweisen, denn die Musik, die der Komponist Michael Wertmüller, selbst Schlagzeuger, zu diesem Musikzauber zusammengefügt hat, kommt von allen Seiten, mal zugleich, mal in schnellem Wechsel:
An beiden Enden der Halle - gut sichtbar auf hohen Podesten, lautstark und elektronisch verstärkt - zwei Bands. Auf einer Seite mit Hammondorgel, E-Bass und klassische Percussion die Steamboat Switzerland, auf der anderen Seite, weit entfernt, mit E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug die rasend-temperamentvolle Jealous, eine Garage-Punk-Band aus Israel. In der Mitte, an der Längsseite, das Assello Streichquartett. Außerdem rund um die Halle auf der Galerie unterwegs oder auf Balkonen vor zehn riesigen Projektionssegeln performend, die Sängerinnen mit raumfüllenden, kraftvollen Stimmen: Caroline Melzer und Sarah Pagin (Sopran), Christina Daletska (Mezzosopran) oder die rasante argentinische Rapperin Catnapp - alle vier in kunstvollen Schwarzweiß-Kostümen zu Skulpturen verfremdet. Dazu als Kontrapunkt in knallrotem Outfit die Burgschauspielerin Sylvie Rohrer, die als Conférencière, Akrobatin und Zauberin gleichermaßen fasziniert.
Doch worum geht’s an diesem rätselhaften Abend, bei diesem neunzigminütigen „Musiktheater“, dessen Titel D • I • E so gar nichts verrät, und auch der Untertitel Abstrakte Realität mehr verschlüsselt, als er preisgibt. Es sei denn, man kennt die Vorgeschichte, man kennt das Werk des in Krefeld geborenen Malers, Installations- und Objektkünstlers Albert Oehlen, der den Neuen Wilden, oder den Neoexpressionisten zugerechnet wird. Er selbst bezeichnet sein malerisches Werk allerdings als postungegenständlich und gesteht dabei zu, das sei „albern“.
Zusammen mit dem deutschen Schriftsteller Rainald Goetz gab er 2010 unter eben diesem geheimnisvollen Titel ein Künstlerbuch heraus, in dem dreizehn abstrakte Kohlezeichnungen mit „Wenig-Wort-Texten“ von Goetz „miteinander Ping-Pong spielen“. Goetz, ein promovierter Historiker und Mediziner, dessen neuestes Stück Reich des Todes in dieser Spielzeit im Düsseldorfer Schauspielhaus gegeben wird, liefert einen höchst „abstrakten“ Wort-Text, entfernt erinnernd an Konkrete Poesie, der im Programmheft des Musikabends abgedruckt ist. Allein, auch diese Wortkaskaden helfen zur Sinn- und Bedeutungsfindung des Ganzen nicht weiter. 14 durchnummerierte, betitelte Wortgruppen können als rhythmische Impulse dienen, vielleicht als Wortcluster amüsieren wie „villa beau rivage / müsste/küste/lust/Kurort, in dem sogar einer der ganz seltenen Reime steckt, sinnerschließend sind sie nicht.
Dieses Künstlerbuch von Oehme/Goetz bildet nun nach zehn Jahren den Anlass und Grundlage für die Komposition des Musiktheaters mit gleichem Titel. Michael Wertmüller lässt sich von den Strukturen der Grafiken inspirieren und generiert daraus „eine fantastische Polymetrik“, die er auf die Bands überträgt, während er aus der Goetzschen Lyrik „Klangfarbenmelodien destilliert“, die dann gesungen, gerappt oder deklamiert werden. Und das gelingt phantastisch!
Aus der Stille und Dunkelheit windet sich elegant, charmant Sylvie Rohrer auf einen der Balkone: „mögen sie vielleicht einen salat vorweg?“ fragt sie ins irritierte Publikum. Das ist aber an diesem irrealen Abend schon alles an Realität oder auch Banalität für die nächsten neunzig Minuten, erst im allerletzten Satz bricht der Alltag wieder ein mit „wünschen sie/sonst noch was? Einen Espresso bitte/bitte gern.“ Dazwischen ist alles vom Feinsten, Kunstvollsten, Surrealen.
Über einen der Projektionssegel schwirren die ersten Lichtbälle, eine Künstlerin versucht sie rhythmisch singend und springend zu erhaschen, doch spielerisch gleiten sie davon, umkreisen die Halle, Lichtbänder umringen sie, Linien lösen sich auf, verknoten sich, füllen ganze Flächen, tanzen zur Musik und zum Gesang, der schon bald von allen Seiten tönt. Sängerinnen schwingen tanzend ihre Op-Art-Kostüme, verschmelzen mit der Bewegung der holografischen Bildprojektionen, schmiegen sich in bedächtige Melodien der Streicher oder kollidieren lustvoll mit hartem Punk der Jealous.
Fulminant, wie Titus Engel, der nicht zum ersten Mal mit Michael Wertmüller zusammenarbeitet, die Vielfalt der Musikgenres zusammenhält, wie er Kontraste interagieren oder kollidieren lässt, wie er den Jazzern scheinbar freien Lauf lässt und dann wieder alles abfängt. Musikkenner mögen Zitate von Schostakowitsch, Strauss und Zimmermann erahnen, während auf den Wänden die holografischen Musikvisualisierungen von Thomas Stammer die Augen fesseln.
Dann zu Textfetzen wie: wortverstauchung/sittenstrolch/irrenanstalt buch ein Solo für Sylvie Roher: langsam schwebt sie inmitten halografischer Skulpturen in die Höhe, dreht sich wie ein Propeller im Raum, um wenig später gejagt zu werden von ihrer eigenen Projektion, die ins Überdimensionale anwächst und ihr Original mit aufgerissenem Maul vor sich her treibt, nach ihm grabscht und es am Ende verschlingt. Das digitale Gespenst als Sieger.
Die Holografien - bis jetzt weiß auf dunklem Grund - wechseln in tiefes Schwarz (analog zur Buchvorlage) und Trauermusik dröhnt von allen Seiten.
Ein Abend ohne Erzählung oder Geschichte. Ein Abend der Künste für die Kunst.
Begeisterung und frenetischer Applaus als Dank.