Auf der Leinwand spielt die Musik
Westfalen im Jahre 1759 - ein ödes Fleckchen Erde und eher links liegen gelassen vom Rest der Welt? Von wegen! Nicht nur hier ist viel los. Denn es wurden zum Beispiel die Tribünenplätze beim Reitturnier „der Sieger“ zu überhöhten Preisen verkauft. Und auch sonst passiert jede Menge auf der Welt. Davon erfahren wir in einer „historischen“ Ausgabe der Westfälischen Nachrichten. Die ist natürlich ein Fake - liebevoll und detailreich gestaltet mit Artikeln von Saskia Kunze und Martina Spicher und illustriert von Robert Nippoldt. Mit dieser Postille sind wir schon mitten drin in Voltaires Welt, die er in Candide erschafft.
Illustrator Nippoldt ist der Mittelpunkt dieser konzertanten Aufführung von Bernsteins Operette. Doch was heißt schon konzertant? Spätestens nach fünf Minuten hat man vergessen, dass es kein Bühnenbild und kein Regiekonzept gibt. Denn Robert Nippoldt illustriert live jede Szene mit tausenden Einfällen. Ein Gag reiht sich an den anderen, Nippoldt tobt mit Zeichenstift und scherenschnittartig angelegten Kärtchen wie ein Wirbelsturm durch die Szenerie, zaubert Frechheiten und zarte Anspielungen auf die Leinwand, hat scheinbar tausend Arme und ebenso viele Finger. Er zieht das Publikum hinein in das Geschehen, bis niemand mehr weiß, wo vorn und hinten ist. Am Ende jedoch sinken alle zufrieden und glücklich in die Theatersessel.
Und diese - sagen wir es ruhig - ziemlich irre Angelegenheit, passt gut, ja sehr gut zur Handlung von Candide, die einmal rund um die Welt führt und dann wieder zurück. Der illegitime Adelsspross Candide merkt nach einer behüteten Jugend in einem westfälischen Privinzschloss, dass die Welt nicht gut ist, so wie es sein Hauslehrer Dr. Pangloss ständig lehrt. Ihm begegnen Krieg, Inquisition und damit Brutalität, Mord und Vergewaltigung. Doch Candide glaubt unerschütterlich an das Gute - auch an seine Liebe zu Cunegonde, die sich inzwischen unter anderem der Prostitution hingibt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Was, wer, wo, wie, wann - all die eigentlich wichtigen Fragen einer Handlung bleiben unbeantwortet. Und da ist es gut, dass Loriot, der bekanntermaßen verständige Opernerklärer und -versteher Zwischentexte geschrieben hat, die das Geschehen in Candide erläutern, oder besser: kommentieren. Das Theater Münster hat sich da Nachbarschaftshilfe geholt vom münsterschen Wolfgang-Borchert-Theater. Dessen Intendant Meinhard Zanger rezitiert Loriot ebenso trocken wie der Maestro sprechen würde, dabei nicht ganz so seriös, sondern auch schon mal mit Strapsen - herrlich.
Genauso ironisch und pointiert wie sich der Spötter Voltaire dem Sujet nähert, komponiert Bernstein mit spitzer Feder - frisch und stets mit einem kleinem Schalk im Nacken. Das Sinfonieorchester Münster ist hinter der großen Leinwand auf der Bühne positioniert und bringt unter der Leitung von Kapellmeister Stefan Veselka Bernsteins Partitur zum Funkeln.
Da lässt sich auch das Solist*innenensemble „nicht lumpen“ und geht mit großem Spaß ans Werk. Der ist in jeder Szene spür- und erfahrbar. Garrie Davislim. Gregor Dalal, Nana Dzidziguri, Jonas Böhm, Kathrin Filip, Mark Watson Williams und Valmar Saal lassen die konzertante Situation vergessen und zaubern farbenreich die unterschiedlichen Charaktere auf die Bühne - sekundiert vom Opernchor, der - von Boris Cepeda bestens präpariert - vom dritten Rang ins große Haus des Theaters schallt. Elena Fink übernimmt als Einspringerin für die erkrankte Marielle Murphy die Cunegonde und zwitschert die halsbrecherische Arie „ Glitter and be Gay“, während der Illustrator ihr spielendes Double hemmungslos im Geschwindigkeitsrausch tindern lässt.
Das Publikum ist am Ende natürlich schwer begeistert. Der Abend ist eine tolle Ensemble-Leistung und doch ist eindeutig Robert Nippoldt Vater des Erfolgs. Seine Künste auf der großen Leinwand tragen den Abend. Es bedarf keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusehen, dass Candide auch in den weiteren Vorstellungen Triumphe feiern wird.