Übrigens …

Otello im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Äußere Abgrenzung, innerer Verfall

Da liegt Europa. Wie sieht es aus? Wie ein bunt angestrichenes Irrenhaus“, dichtete Kurt Tucholsky im Jahr 1932. Die Sorge um den Zustand des Kontinents ist also nicht neu, aber unvermindert aktuell. Auf der Opernbühne in Gelsenkirchen verkommt jetzt ein mondäner Bau, auf dessen Dach der Leitspruch „In Vielfalt geeint“ prangt, immer stärker zur Festung - und schließlich zum Schlachtfeld.

In diesem Rahmen präsentiert Regisseur Manuel Schmitt die Oper Otello: diesmal nicht das viel gespielte Meisterwerk von Giuseppe Verdi, sondern den wenig bekannten Dreiakter von Gioachino Rossini, der 60 Jahre früher entstand und sich in wesentlichen Punkten vom berühmten Schwesterwerk unterscheidet. Hier ist Desdemona nicht offiziell, sondern nur heimlich die Gattin von Otello.

Eine wesentliche Rolle kommt ihrem Vater Elmiro zu, der sie in die Ehe mit Rodrigo zu zwingen versucht. Für den finsteren Intriganten Jago, der hier ganz ohne das verräterische Taschentuch auskommt, bleibt da nicht viel zu tun: Denn die Gesellschaft als Ganzes steht Desdemonas Verbindung mit dem Ausländer entgegen. Trotz seiner Erfolge wird der siegreiche Feldherr nur als unerwünschter Emporkömmling mit der falschen Hautfarbe begafft.

Gottlob sieht die Regie davon ab, die Rassismuskeule zu schwingen. Manuel Schmitt, der in Gelsenkirchen bereits erfolgreich Die Perlenfischer von Georges Bizet inszenierte, genügt ein wohltuend dezentes Spiel mit Symbolen, um reale Missstände zu artikulieren. Die Details im sinnstiftenden Bühnenbild von Julius Theodor Semmelmann mag jeder für sich entdecken. Mit der Personenführung tut Schmitt sich schwerer: Die innere Nöte von Otello und Desdemona drücken sich in einem Bewegungsvokabular aus, das auf die Dauer doch recht stereotyp wirkt.

Zur Renaissance von Rossinis 18 ernsten Opern, die es gegen seine 13 komischen deutlich schwerer haben, leistet diese Produktion einen verdienstvollen, auch musikalisch ansprechenden Beitrag. Auf das eigene Gesangsensemble und junge Kräfte aus dem Opernstudio vertrauend, kann das Haus bewegliche und frische Stimmen präsentieren, die sich den virtuosen Anforderungen von Rossinis Gesangspartien mit Mut und Geschick stellen.

Die japanische Mezzosopranistin Rina Hirayama steht als Desdemona im Zentrum. Sie zeichnet stimmlich das Portrait eines ängstlichen jungen Mädchens, dem mit der Liebe zu Otello eine immer größere Kraft zuwächst. Je mehr sie gesellschaftlich auf verlorenem Posten steht, desto energischer schwingt sich ihr Mezzo zu Höhen auf, die im dritten Akt verblüffend deutlich auf die heroischen Gestalten von Giuseppe Verdi vorausweisen. Jüngst noch Mitglied im Jungen Ensemble, feiert Hirayama mit dieser Hauptpartie einen beachtlichen Erfolg.

Als Otello benötigt der Südafrikaner Khanyiso Gwenxane die Qualitäten eines „Tenore di grazia“, aber auch Durchschlagskraft für dramatische Ausbrüche. Dieser heikle Balanceakt gelingt ihm über weite Strecken gut, obschon die Partie seiner Stimme nicht ideal liegt. Gleichwohl kann er schlanke Höhen erreichen, die im Kontrast stehen zu den bebenden Tönen des Zweifels - und schließlich der Verzweiflung.

Als Gast vom Theater Magdeburg stellt Benjamin Lee als Rodrigo imposante Höhen aus. Die rasanten Kurven und Schnörkel des Ziergesangs führen die Beweglichkeit seines Tenors aber zuweilen an die Grenzen. Erfreulich gereift ist die Stimme von Lina Hoffmann, die als Desdemonas Freundin Emilia warme, ebenfalls Richtung Verdi weisende Töne findet. Urban Malmberg (Elmiro) und Adam Tempel-Smith (Jago) geben ihren Rollen bei der Premiere leider nur wenig Farbe.

Dass mit Giuliano Betta ein Italiener am Dirigentenpult der Neuen Philharmonie Westfalen steht, ist ein weiterer Pluspunkt für diesen interessanten Abend. Unter seiner Leitung entfaltet sich Rossinis mitreißende Motorik so spritzig, wie man sich das wünscht. Die Streicher-Repetitionen sprühen, die Holzbläser tönen edel, die Trompeten verleihen ihren schmissigen Fanfaren Eleganz. Dass die Regie eine Hornistin und die Harfenistin aus dem Orchestergraben auf die Szene holt, verleiht deren Soli zusätzlichen Reiz. Der von Alexander Eberle gut einstudierte Chor fügt sich nahtlos in das klangliche Gesamtbild ein.

Wie in den Theaterstücken Ferdinand von Schirachs darf das Publikum kurz vor Schluss per Abstimmungskarte über den Ausgang der Oper bestimmen. Weil Rossini für Otello verschiedene Versionen komponierte, entscheiden die weiße oder die schwarze Kartenseite zwischen dem originalen Finale von 1816 und der zweiten Variante für den römischen Karneval. Bei der Premiere wählte die Mehrheit Weiß - und sah Desdemona trotzdem sterben. Warum? Vielleicht hätte sich die Regie das verwirrende interaktive Spielchen doch besser verkniffen.