Die Frage nach dem Ursprung des Kreativen im Judentum
Das Publikum wird gebeten, zum Prolog des Musiktheaters Zweig und Eselin in der Rotunde Platz zu nehmen: dem großzügigen Foyer des expressionistischen Rundbaus, der, einst als Planetarium geplant, den Menschen die fast 6.000 000 000 Kilometer von der Sonne bis zum äußersten Planeten unseres Universums ein wenig überschaubarer machen sollte. Heute geht es um die Einstimmung ins Universum des kreativen Judentums mit Klanginstallationen zu Texten, die vom Buch Genesis bis zu Fragen und Ängsten der Gegenwart reichen. Hier, im Prolog, erreichen sie uns allerdings nur als Wort- und Textfetzen aus diversen Mikrofonen über- und gegeneinander geblendet, als ein einziges Kaleidoskop unentwirrbarer Gedankenblitze aus Texten jüdischer Dichter und Denker, die sich später im Saal entwirren, sich zuordnen lassen und einen grandiosen Bogen vom Alten Testament über Abraham Ibn Esra, Heinrich Heine, Theodor Herzl, Alfred Döblin, Hannah Arendt und Stefan Zweig zu den Autoren Vuletic und Moskovitz schlagen.
Als Leitmotiv des Stücks verweben sich dabei zwei Geschichten miteinander: zum einen die alttestamentliche Episode um den Weisen Bileam und die Eselin, die im neunten vorchristlichen Jahrhundert angesiedelt ist und der die titelgebende Gestalt der Eselin entliehen ist. Dieses Lasttier, von den Menschen gemeinhin für dumm gehalten, wird im Mythos von Gott mit der Gabe des erkennenden Sehens und Sprechens ausgestattet und bringt den in die Irre gehenden Bileam auf den rechten Weg zurück (so im Vierten Buch Mose berichtet).
Zum anderen der fiktive innere Monolog des zum Selbstmord entschlossenen Stefan Zweig, auf der Bühne hörbar gemacht als Dialog zwischen Philipp Alfons Heitmann als höchst sensiblen, zu Tode erschöpften Stefan Zweig und der Eselin, gegeben von der grandiosen Schauspielerin Hanna Werth, die alle Register zieht, um den - nach jüdischem Gesetz, das den Selbstmord verbietet - in die Irre gehenden Zweig auf den rechten Weg zurückzubringen. Dieses existenzielle Ringen, das Fragen aufwirft, Zweifel und Hoffnungen des Lebens und Glaubens umkreist, wechselt in Text und Musik faszinierend von ernst bewegenden zu zynisch, lustvoll beharrenden oder wütend tobenden Tonlagen, die von sechzehn bravourösen Musikern genial interpretiert werden.
Sie alle sind Solisten, aus aller Welt zusammengekommen, von denen jeder etwas zu behaupten weiß. Auf jeden einzelnen hin komponierte Bojan Vuletic die entsprechenden Passagen des Stücks und räumte dabei jedem Raum für ganz eigene improvisatorische Soli ein.
Gleich zu Beginn ergreift das traurig fragende Trompeten-Solo des fulminanten Solisten Nate Nate Wooley die Herzen im Saal, während die Gesangsstimmen flüsternd auf die Genesis verweisen, um dann chorisch den zornigen Gott zu zitieren: Ich will den Menschen, den ich erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen und mit ihm das Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels. Wie der Chor der antiken griechischen Tragödie begleiten diese glanzvollen Stimmen (Marie-Audrey Schatz, Sopran; Aurélie Franck, Alt; Martin Wistinghausen, Bass)) das Geschehen mal kommentierend, mal Themen setzend, mal auf Hebräisch, mal auf Deutsch, mal im Sprechgesang, mal in dramatischen Chören.
Wie die Stimmen, so werden auch die Instrumente „ausgereizt“: im Wechsel von ruhigen Harmonien zu harten Dissonanzen, von klassischen zu atonalen Partien, schickt uns die Musik - wie das Libretto - durch die Ungewissheiten der religiösen, literarischen, philosophischen, existenziellen Welten. Dabei werden die physischen Grenzen der Instrumente ungewohnt hart definiert. Ob Trompete, Cello oder Akkordeon, immer wieder bringen die sonst so wohltönenden Instrumente nichts als exzessiv raue Geräusche hervor. So erhält die immer wiederholte Klage des Hiob: „Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg?“ durch das Schnarren, Kratzen und Pochen des Cellos etwas Total-Verlorenes, Aus-der-Welt-Gefallenes.
Doch Stefan Zweig ist nicht Bileam: am Ende verliert die Eselin trotz all ihrer guten Argumente die Wette um das Leben des damals weltbekannten Autors. Das Stück schließt mit einem traurigen Lied der wunderbaren Dirigentin und Sängerin Cymin Samawatie und dem Abschiedsbrief des lebensmüden Stefan Zweig, der sich am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner Frau Lotte Altmann in Brasilien das Leben nahm.
Vuletic und Moskowitz machen mit ihrem Musiktheater einen Kanon von Fragen auf, ohne deren Antworten zu behaupten. Sie belassen es dabei, die jüdischen Größen der Geistesgeschichte zu zitieren und zu befragen und scheuen nicht davor zurück, die zionistische Idee und die Existenz eines jüdischen (National)-Staates kritisch zu hinterfragen. Ihnen geht es darum, Spuren und Quellen jüdischer Kreativität aufzuzeigen und mit König Salomon um ein hörendes Herz zu werben.