Übrigens …

Lucia di Lammermoor im Essen, Aalto-Theater

Triumph des Irrsinns

Der Tod ist uns sicher; ungewiss ist nur die Stunde. Diesen Sinnspruch stellt Dietrich W. Hilsdorf seiner nunmehr 21. Regiearbeit für das Essener Aalto-Theater voran. Die Figuren aus Gaetano Donizettis tragischer Oper Lucia di Lammermoor versammeln sich in dieser Neufassung in einem Sterbezimmer. Glänzende Särge stehen bereit, in einem von ihnen liegt eine Frau.

Lucias Mutter ist verstorben, aber der Tochter ist es nicht vergönnt, in Ruhe um sie zu trauern. Zu sehr setzen die Männer des Ashton-Clans sie unter Druck: allen voran Lucias Bruder Enrico, der sie aus Machtgründen in eine Ehe mit einem ungeliebten Mann treiben will. Die Nötigung ist grausam, aber wo das Patriarchat seine Interessen verfolgt, sind die Wünsche und Bedürfnisse einer jungen Frau bedeutungslos, sei es im Schottland Ende des 16. Jahrhunderts oder anderswo.

Trauerspiel, Schauergeschichte und Requiem zugleich ist dieser Abend, den das bewährte Gespann Hilsdorf/Leiacker in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten präsentiert. Das ist stimmig, denn diese heillose Geschichte auf der Grundlage von Sir Walter Scott kennt keine Zwischentöne, sondern nur ein Entweder-Oder, ein Ganz oder gar nicht. Die Clans der Ashtons und der Ravenswood stehen einander unversöhnlich gegenüber. Zwischen diesen Blöcken wird Lucia regelrecht zerrieben.

Warum sie letztlich den Verstand verliert, zeigt die gekonnte Personenzeichnung von Dietrich Hilsdorf. Da ist zunächst der feurige Edgardo, dem Lucia, kaum weniger leidenschaftlich, ewige Treue schwört. Die Bedingungslosigkeit dieser Liebe, die nicht sein darf, zieht die Katastrophe nachgerade an, zumal Enrico ein verbohrter Sturkopf ist. Und hat man je einen geckenhafteren Verehrer gesehen als Lord Arturo Bucklaw, den Lucia zu heiraten gezwungen wird?

Unter Hilsdorfs Regieführung spitzt sich die Handlung genauso zu, wie jeder Opernfreund das kennt und erwartet. Es ist natürlich kein Zufall, dass alle Choristen ihre Finger auf den Rand ihrer Gläser legen, wenn Lucia in ihrer Wahnsinnsarie mit der ursprünglich vom Komponisten vorgesehenen Glasharmonika wetteifert. Auf dem Höhepunkt reißt Lucia ihrerseits ein Glas in die Höhe, gleichsam im irrsinnigen Triumph. Es zersplittert in ihrer Hand in tausend Stücke.

Das sind starke Bilder von großer Ästhetik, unterstützt von den edlen Kostümen von Gesine Völlm. Indessen ruft die Handschrift des Altmeisters keinen Widerspruch mehr hervor. Von den Skandalen früherer Zeiten hat Hilsdorf sich weit entfernt. Das ist nicht zwingend ein Manko, aber ein paar Schärfen hätten dem reibungslos dahin schnurrenden Abend womöglich mehr Würze verliehen.

Sängerisch und musikalisch entschwebt diese Lucia jedem Zweifel. Was die Bühne an Farbe verweigert, leuchtet umso üppiger aus dem Orchestergraben: Die Essener Philharmoniker malen das Drama mit schicksalsschweren Klängen aus, gepaart mit elegantem Melos und vibrierendem Schwung. Selbst durch hymnische Duette bebt unter dem punktgenauen Dirigat des Italieners Giuseppe Finzi eine Spannung, die sich später stürmisch entlädt. An Zurückhaltung zugunsten der Sängerinnen und Sänger fehlt es deshalb keinesfalls. Im Gegenteil hebt das Orchester deren Leistungen empor wie auf dem Silbertablett.

Das sind sie doppelt und dreifach wert. Die in Wien lebende, aus Israel stammende Hila Fahima ist eine Spezialistin für stimmliche Hochseil-Artistik, prädestiniert für Partien wie Gilda, Olympia und Zerbinetta. Als Lucia bleibt sie keineswegs eine „Zwitschermaschine“, sondern verkörpert mit mädchenhaft hellem Timbre und schwebender Leichtigkeit der Tongebung das Paradox einer unbefleckten Mörderin - dem Blut auf ihrem Hochzeitskleid zum Trotz. Ihre Spitzentöne, erzeugt in scheinbar müheloser Serie, sind mehr als ein Bravour-Akt: Sie wirken wie ein Fanal des Widerstands gegen die Unterdrückung der Frau. Die Glasharmonika verleiht dieser Sternstunde des Belcanto eine psychedelische Aura.

Wer gegen eine Primadonna dieses Formats bestehen will, muss eine Menge aufbieten. Aber der Portugiese Carlos Cardoso (Edgardo) hält als „Primo uomo“ staunenswert unangestrengt dagegen. Was sein Tenor an Strahlkraft, Eleganz, Höhensicherheit und Schmelz vereint, reicht an weltberühmte Stars in diesem Fach heran. Es ist schlicht eine Wohltat, wie kultiviert dieser Sänger seine Partie durchformt. Obgleich er seinen Tenor dramatisch ausfahren kann, bleibt er lyrisch bis hin zu den letzten verzweifelten Anrufungen der schönen, liebenden Seele („O bell‘ alma innamorata“).

Flankiert wird dieses starke Hauptdarstellerpaar von dem Bariton Ivan Krutikov, der Lord Enrico Ashton stimmlich eine beachtliche Bandbreite von sonorer Rechtschaffenheit über Sturheit bis hin zum Hass gibt, und von Baurzhan Anderzhanov als Lucias zunehmend erschüttertem Vertrauten Raimondo. Unter den Nebenrollen gibt es keine Ausfälle. Der Opernchor des Aalto-Theaters spielt wunderbar mit und setzt dem Abend auch musikalisch weitere Glanzlichter auf.

Die Kandelaber auf den Festtischen können den finsteren Pessimismus dieser Oper selbstredend nicht erhellen. In Erinnerung bleiben wird aber ein strahlendes Sängerfest in tiefschwarzem Rahmen.