Wenn die Utopie vom Stapel läuft
Das Vereinigte Königreich ist ein weitgehend deindustrialisiertes Land. Selbst seiner Werften entledigte sich das einst stolze Seefahrervolk. Doch sind Krisen im Schiffsbau kein ausschließlich britisches Problem. Gegenwärtig steht hierzulande eine Stralsunder Werft vor dem Aus. Was aber Sting und seine Librettisten John Logan und Brian Yorkey mit ihrem 2014 am Broadway herausgekommenen Musical auf die Bühne bringen, trifft nicht allein aus diesem Grund ins Schwarze. The Last Ship ist ein Appell, den vermeintlichen Gesetzen und Sachzwängen des Raubtierkapitalismus zu trotzen.
Der als Sohn eines Schiffbauingenieurs im von der örtlichen Werft geprägten Wallsend nahe Newcastle aufgewachsene Komponist kam daher nicht von Ungefähr auf die Geschichte rund um einen Riesenpott namens „Utopia“. Verschiedene Ereignisse aus den Jahren zwischen 1971 und 2005 wurden dafür zu einer Handlung aus einem Guss kombiniert: Kurz vor der Fertigstellung springt der Auftraggeber des Schiffes ab. Ein Bruchteil der Werftarbeiter soll Gelegenheit erhalten, sich für einen Hungerlohn beim Abwracken zu verdingen. Existenzängste und Arbeiterstolz geraten in Konflikt. Und so spaltet die Frage, ob man auf Beschäftigung hoffen oder streiken soll, die Belegschaft. Die Entscheidung fällt für den Ausstand. Und mehr noch: Bevor die Polizei das von den Arbeitern besetzte Werksgelände stürmen kann, läuft die in einer einzigen Nacht fertiggestellte „Utopia“ vom Stapel.
Stings Musical ist weniger männergeprägt, als das Sujet nahelegt. Zwar gibt es den strammen Sozialisten als Gewerkschaftsführer und den zunächst Bedenken tragenden Vorarbeiter. Doch übernimmt, als sich die Ereignisse zuspitzen, die Betriebskrankenschwester das Ruder des Aufruhrs. Auch der weibliche Part der ins Stück verwobenen Liebesgeschichte ist charakterstark. Die alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter hat sich ein kleines Imperium aus Hafenpub, Pommesbude und zwei Waschsalons aufgebaut. Der Kindsvater hatte sich aus dem Staub gemacht und bei der Marine angeheuert. Nicht, um die Braut sitzenzulassen, sondern um das Milieu der Werftarbeiter zu fliehen. Nach langen Jahren kehrt er ins Schiffbau-Städtchen zurück. Trotz einiger Verwerfungen finden die Liebenden erneut zueinander. Als Steuermann lenkt der heimgekehrte Seefahrer die „Utopia“ durch den Fluss und aufs Meer hinaus.
Der Koblenzer Hausherr und Regisseur Markus Dietze erzählt die Geschichte mit viel Sinn für die Rauheit der Verhältnisse. Wie aus dem gemeinsamen Arbeiten und drohender Entlassung der Geist von Solidarität und konkreter Utopie wächst, schildert Dietze packend dynamisch. Kein Zweifel bleibt daran, dass weibliche Durchsetzungskraft der männlichen nicht nachsteht. Catharina Lühr ersinnt eine Choreografie, in der die Massen beim Feiern und im Protest zum schlagkräftigen Kollektiv verschmelzen. Die Spielfläche flankiert Bodo Demelius mit Betonwänden. Im Hintergrund laufen historische Filme im Cinemascopeformat, die Werftanlagen, Schiffbau, Stapelläufe, Streiks samt Arbeiterhäusern von außen und innen zeigen. Georg Lendorff hat das Material so aufbereitet, dass es zum selbstverständlichen Bestandteil des Bühnenbildes wird. Die Kostüme von Bernhard Hülfenhaus fangen die Atmosphäre harter Arbeit ein.
Den Chor und die Herren des Extrachors des Theater Koblenz formiert Aki Schmitt zur auch vokal energiegeladenen Massenbewegung. Karsten Huschke lässt mit seiner Band in munterem Wechsel Rock und Folk aus dem Graben steigen. Dass andererseits einige wenige Nummern nicht mehr als das handelsübliche Musical-Zuckerwerk bieten, fällt kaum ins Gewicht. Monika Maria Staszak verkörpert resolut und mit sprödem Charme die alleinerziehende Mutter und erfolgreiche Kleinunternehmerin Meg Dawson. Ihre Tochter Ellen erhält bei Esther Hilsemer die Entschlossenheit, um sich als Mitglied einer Band nach London und damit auf unbekanntes Terrain zu wagen. In solchem Freiheitsdrang trifft sie sich mit ihrem Vater Gideon Fletcher. Marcel Hoffmann zeigt, wie Gideon lernt, seinen Durst nach Freiheit in den Dienst der Streikbewegung zu stellen und Verantwortung für seine Tochter zu übernehmen. Das Herz auf dem richtigen Fleck und beredte Überzeugungskraft bietet Raphaela Crossey für die Betriebskrankenschwester Peggy White auf. Ihr Mann, der Vorarbeiter Jackie White, wandelt sich überzeugend vom Zauderer zum Befürworter des Streiks. Dem Gewerkschaftsobmann Billy Thompson gibt Sebastian Haake die unbeirrbar konfrontative Stoßrichtung auf den Arbeitskampf.