Stierkampf total
„L’amour est un oiseau rebelle, que nul ne peut apprivoiser “- singt Carmen und stellt damit gleich zu Beginn von Bizets Oper unmissverständlich klar, dass sie sich in Liebesangelegenheiten nicht auf Kompromisse einzulassen bereit ist. Durch die Radikalität ihrer Positionen wäre Carmen auch heute noch durchaus ein Stein des Anstoßes.
Rahel Thiel lässt in ihrer Inszenierung den Konflikt zwischen Carmen und Don Josés bürgerlichen Beziehungsträumen langsam hochkochen und - von dessen Eifersucht weiter angefeuert - in die unausweichliche Katastrophe münden. Das beginnt alles ganz harmlos. Und doch ist in Josés fast kindlichem Schwärmen schon der unüberbrückbare Antagonismus zu Carmens antibürgerlichen Vorstellungen angelegt - sowohl in Bizets Musik als auch in Thiels Regiekonzept. Schnell macht Thiel klar, dass der Wechsel vom bürgerlichen ins kleinkriminelle Milieu José eigentlich zutiefst widerstrebt. Lustlos, ja aufreizend langsam bewegt er sich unter Carmens Freunden, die voller Energie einen neuen Raubzug vorbereiten. Ihn hält dort nur Carmen. Gleichzeitig hat er aber durch sie jede Möglichkeit verloren, in sein altes Leben zurückzukehren. Das wird ihm schmerzlich bewusst, als Micaëla versucht, ihn zur Umkehr zu bewegen. Er ist unwiderruflich an Carmen gekettet. Der Torero Don Escamillo, deren neuer Liebhaber, bleibt als Figur blass und dient Thiel allenfalls als Brandbeschleuniger für den Showdown - der ultimativen Konfrontation. Für die baut Dieter Richter eine veritable Stierkampfarena. In den Logen tummelt sich bürgerliches Publikum. Die Damen werden von Renée Listerdal mit der Mantilla, der züchtigen Kopfbedeckung ausgestattet. Sie sind aber genauso voyeuristisch wie ihre männlichen Begleiter. Alle zusammen heizen die Kombattanten in der Arena an. Dort steht Carmen als heißblütiger, unberechenbarer Stier Don José gegenüber. Sie weiß, dass sie dem Tode geweiht ist, reizt und stachelt ihn an, sein Werk zu vollenden. Letztendlich ersticht er sie, während sie sich gleichzeitig ins Messer stürzt und so ihren Prinzipen treu bleibt. Das ist ein starkes Finale, welches ein paar Albernheiten und die nicht immer ganz stringente szenische Arbeit mit dem Chor vergessen lässt.
Wie immer kann der Chor des Musiktheaters im Revier glänzen. Das gelingt auch dem Kinderchor. Und auch die kleineren Solo-Partien sind überzeugend besetzt. Piotr Procheras Escamillo lässt etwas an Virilität vermissen und strotzt nicht vor Testosteron während Khanyiso Gwenxane als Don José im Finale ein Höchstmaß an Besessen- und Verlorensein offenbaren kann.
Lina Hoffmann zeigt als Carmen große darstellerische wie gesangliche Fähigkeiten und überzeugt. Den letzten Rest stimmlicher Glut, der noch fehlt, wird sie sicherlich noch entwickeln können. Eine Entdeckung aber ist Heejin Kim als Micaëla. Die junge südkoreanische Sopranistin bereitet sich derzeit auf ihr Konzertexamen vor und ist Mitglied des Opernstudios NRW. Ihre Stimme leuchtet aus dem unscheinbaren Reisekostüm der Micaëla förmlich hervor, strahlt Glaube, Liebe, Nachsicht und Festigkeit aus - eine ganz hervorragende Leistung.
Und auch die Neue Philharmonie Westfalen entwickelt im Orchestergraben hitzige Gefühlsraserei und wildes Kampfgetön. Rasmus Baumann rundet so einen in sich absolut stimmigen Carmen-Kosmos, den das Publikum mit ganz viel Applaus goutiert.