Madama Butterfly im Gelsenkirchen, Musiktheater im Revier

Eine echte Liebe und viel falsches Lokalkolorit

Im Theatersaal wird es abrupt dunkel. Und ebenso schnell wird es hell auf der Bühne. Da laufen die Vorbereitungen der „Hochzeit“ des amerikanischen Marineoffiziers Pinkerton mit der japanischen Geisha Cio-Cio-San. Und wir merken sofort: Nichts an diesem Fest ist echt, wie überhaupt die Lüge, das Verbrämen von Realität der Kern von Gabriele Rechs Inszenierung der Madama Butterfly ist. Sehr genau arbeitet sie heraus, was wahr ist und was falsch. Echt ist nur die tiefe Liebe der Geisha zum Amerikaner.

Zurück zur Hochzeit: die findet schlicht in einem riesigen Bordell statt. Dirk Becker hat die Bühne des Musiktheaters im Revier ganz intim gestaltet. Unten eine kleine Spielfläche, auf der sich die Figuren begegnen - in der ersten Etage wird die Handlung kommentiert. Goro, der Heiratsvermittler, ist nichts weiter als ein schmieriger Zuhälter. Er bezahlt seine Nutten dafür, dass sie bei der Hochzeit als japanische Familie auftreten - eine Show, die Pinkerton das rechte Maß an Exotik bieten kann. Gabriele Rech spart dabei nicht mit dem Spiel mit Ethno-Kitsch: Japanische Papierlampions beleuchten die Szenerie während der Hochzeitszeremonie, sorgen für scheinbar unendliches Behagen im Brautgemach und leiten mit einem „Lichtertanz-Ballett“ das grausame Finale ein. Und auch sonst fehlt nichts an Chinoiserien, die mit Japan nichts zu tun haben. In unserer Vorstellung sind sie aber mit Asien fest verwurzelt - wie die winkende „Grinsekatze“.

Gabriele Rech spielt mit Vorurteilen und Äußerlichkeiten. Aber das wirklich zutiefst Beeindruckende ist, dass auch der folkloristische Zinnober von Rech als Mittel zum Zweck genutzt wird, um tief in die Handelnden hinein zu blicken.

Cio-Cio-San ist es, die im Mittelpunkt steht. Renée Listerdal als Kostümbildnerin betont das Echte, Unverfälschte, in dem sie die Butterfly frei hält von allem Lokalkolorit. An ihrem Outfit ist nichts unecht. Da gibt es keine Geishaverkleidung mit Obi. Und Rech geht noch einen Schritt weiter: Nichts bleibt bei ihr übrig von einer zarten japanischen, ergebenen Frau. Madama Butterfly ist hier eine selbstbewusste Frau, die bedingungslos liebt, diese Bedingungslosigkeit aber auch von ihrem Partner einfordert. Zu dieser Hingabe ist Pinkerton nicht in der Lage und muss deshalb die Konsequenzen tragen. Und die enden in seinem Tod. Konsequenter Schlusspunkt: „Ehrenvoll sterbe, wer nicht länger in Ehren leben kann“ singt die Butterfly und ersticht nicht sich selbst sondern Pinkerton, der bequem nur auf seinen Vorteil bedacht war und wahre Liebe nicht kennt.

Michael Schulz hat in Gelsenkirchen über Jahre hinweg ein Ensemble geformt, das sich blind versteht, perfekt harmoniert und immer wieder junge Talente integriert. Das ist eine Glanzleistung, die auch in der Madama Butterfly wieder für einen reibungslosen „Flow“ und eine gleichmäßig qualitätvolle Besetzung der kleinen Rollen sorgt. Mit fülligem Klang trägt Alexander Eberles Chor zum Hörerlebnis bei - bleibt auch darstellerisch nichts schuldig.

Urban Malmberg singt den Sharpless eher unsensibel, ist der typisch amerikanisch Besatzer mit Überlegenheitsgehabe. Mitleid, Mitgefühl ist bei ihm weniger zu spüren. Noriko Ogawe-Yatake, einst selbst in Gelsenkirchen in der Titelrolle zu erleben, ist eine wunderbar fürsorgliche und mitleidende Suzuki.

Carlos Cardosos Tenor ist sicher das, was man zu recht strahlend nennen kann. Freude, Lebenslust und Unbekümmertheit legt er in seine Stimme, singt die Probleme mit Grandezza fort und offenbart so Pinkertons gnadenlose Rücksichtslosigkeit und Egomanie - ein Rollenportrait, das über jeden Zweifel erhaben ist!

Das aber gilt auch für Cio-Cio-San. Ilia Papandreou ist von Beginn an kein kleines, unschuldiges, frisch verliebtes Mädchen. Ihre Liebe zu Pinkerton offenbart gleich eine Tiefe, die Papandreou immer wunderbar nuanciert ausbreitet und die schließlich in eine unüberbrückbare Kluft führt. Zu ganz großer Form aber läuft Papandreou auf, je weiter es auf das tragische Ende zugeht. Kaum auszuhalten, wie sie auf die Rückkehr des Geliebten wartet. Jede Silbe ausgedrückter Hoffnung wird fein gestaltet, Leid wird für das Publikum fast physisch erfahrbar. Und am Ende ist Papandreous Butterfly zwar desillusioniert, aber voller Würde und Selbstwertgefühl.

Papandreous und auch Cardosos Rollengestaltung gehen eine kongeniale Symbiose mit Rechs Regiekonzept ein. Und die Neue Philharmonie Westfalen unter Giuliano Betta entfacht ein brodelndes Fundament für die Gefühlsstürme auf der Bühne. Sänger*innen, Orchester, Dirigent und nicht zuletzt das Regieteam werden immens gefeiert.

Konrad Beikircher hat in seinem Opernführer Palazzo Bajazzo die Kategorie „Fazzoletto“ eingeführt. Wie viele Taschentücher braucht man, wie angefasst ist man von der Produktion? Also, ich habe fünf gebraucht. Das ist dann die Höchstwertung fürs Miterleben und Mitleiden.