Übrigens …

All right. Good night. im Mülheim/Ruhr

Die Furie des Verschwindens

All right. Good night. So lauteten die letzten Worte des Piloten des Malaysia Airlines Flugs MH370 von Kuala Lumpur nach Peking, bevor die mit 239 Personen besetzte Maschine von den Radaren der Luftüberwachung verschwand. Der Rest … ist mysteriös. Viele Anzeichen sprechen dafür, dass der Pilot – vermutlich in Selbstmordabsicht – die Flugrichtung änderte und die Maschine Stunden später mit leerem Tank in den Indischen Ozean stürzte. Aber es gibt auch Verschwörungstheorien, die von einem gezielten Abschuss sprechen, um eine unliebsame Person an Bord zu töten oder um eine Lieferung von Waffen oder noch kritischerem Material zu verhindern. Die Crash Survival Memory Unit (CSMU), die Black Box, die Auskunft über den Verlauf der letzten Stunden des Flugs und die Absturzursache geben könnte, wurde nie gefunden.

Bitte haltet Kontakt zu mir. Und versucht zu verzeihen, wo es nötig ist.“ So lautete die letzte E-Mail des Vaters der Regisseurin. Etwa zur gleichen Zeit als das malaysische Flugzeug verschwand, begann die Demenz des alten Mannes. Eine Crash Survival Memory Unit hat der Mensch nicht, aber Helgard Haugs Vater hat Tagebuch geschrieben, hat viele seiner Gedanken schriftlich niedergelegt. Auch über seinen Tod – oder besser: über die gewünschten Umstände seines Sterbens – hat er sich geäußert: „Lebensverlängerung ist durchaus mein Wunsch, aber nicht Sterbeverlängerung.“ Erkennbar hat er sich auch mit der Gefahr einer Demenzkrankheit auseinandergesetzt. Helgard Haugs Vater hat, wenn man sich als Außenstehender dieses Urteil anmaßen darf, Glück gehabt mit seiner Familie: Mit großer Sensibilität sind seine Kinder mit dem Fortschreiten der Krankheit umgegangen, die dennoch jeden Begleiter und Hinterbliebenen vor unlösbare Rätsel und Herausforderungen stellt. Andererseits hört man den Äußerungen des Vaters noch im fortgeschrittenen Zustand der Demenz seine frühere Sprachbeherrschung und Fähigkeit zur Reflektion an.

Die Furie des Verschwindens wütet überall. Helgard Haug schließt das Verschwinden der Passagiermaschine, die eine der größten Katastrophen der zivilen Luftfahrt darstellt, mit dem langsamen Verdämmern der Erinnerungen ihres Vaters kurz. Ein Jahr vor dem Ausbruch der Krankheit hat der Vater ein Ölbild gekauft, das einen langen Weg in die Ferne zeigt. Im Nachhinein wirkt das, als habe er eine Vorahnung gehabt von dem, was ihm bevorsteht. Sowohl mit dem Zeitpunkt des Abflugs der Maschine in Kuala Lumpur als auch mit dem Beginn der Demenz startet eine Reise ins Ungewisse. In beiden Fällen wissen die Reisenden noch nicht, dass es eine Geschichte des Verschwindens ist, die nun beginnt. Die vier Geschwister, die Kinder des Vaters, haben „Kontrollpunkte“ eingerichtet, als sich dessen Krankheit immer deutlicher abzeichnet. In der Luftfahrt existiert längst ein dichtes Netz solcher Kontrollpunkte. Doch der Vater und die Boeing tauchen darunter hinweg.

Helgard Haug hat ihre Erzählung in acht Kapitel eingeteilt: acht Jahre der Demenz. „Take-Off“, heißt das erste; „Den Schein wahren“ das zweite, in dem man versucht, Vater nicht spüren zu lassen, dass er zum dritten Mal dieselbe Rede hält, in dem man weiter nach dem verschwundenen Flugzeug sucht, obwohl es keinerlei Aussicht gibt, Überlebende zu finden. Es ist frappierend, wie gut die Parallelführung der beiden scheinbar so unterschiedlichen Geschichten aufgeht. Collageartig werden die beiden Vorgänge des Verschwindens miteinander verzahnt: „Im Alter bleiben Demut und Depression“, sagt der Vater zum Beispiel einmal, und die Schwägerin der Autorin antwortet: „Wie wär’s mit Stolz?“ – Und prompt folgen die technischen Daten dieses stolzen Vogels, der da über den Meeren Asiens verschwunden ist, die Spannweite der Boeing u. a. a. m…. - Im Notfall fallen Masken von der Decke eines Flugzeugs. In der Demenz fallen die Masken auch: die normale Maskierung, die wir alle im Alltag tragen, um Selbst- und Fremdbild zu zeichnen, ist nicht mehr möglich. - „Das Maß kommt abhanden“: Die Kosten für die Suche nach dem Flugzeug wachsen ins Unermessliche – als gäbe es noch Hoffnung, Überlebende zu finden. Doch tatsächlich werden nach Jahren Wrackteile des Flugzeugs an den Küsten angeschwemmt. Beim Vater ist es das Zeitmaß, das abhandenkommt: längst vergessen geglaubte Erinnerungen dringen wieder an die Oberfläche, während er Gespräche und Vereinbarungen von gestern vergessen hat. „Immer wieder spuckt das Meer ein Teil vom Ganzen aus“, heißt es im Text, und diese Aussage ist metaphorisch auch für das Meer der Erinnerungen des Vaters gültig. Tatsächlich bemerkt der Vater in einem hellen Moment, er „zerfalle in Teile“. Sprachliche Metaphern, die sowohl auf das Unglück in der Luftfahrt als auch auf die Turbulenzen, die die Krankheit des Vaters verursacht, passen, finden sich zuhauf in der Aufführung.

Insbesondere in den Passagen um das Flugzeugunglück bewegt sich der Text auf der Ebene der Dokumentation. Eindringlicher ist das, was zur Demenz des Vaters, seinem vorausschauenden Umgang mit dem Thema sowie den Reaktionen und Schutzmechanismen der Familie gesagt wird. Viel besser, viel genauer, aber auch viel einfühlsamer kann man das Thema kaum in eine Szenefolge fassen. Durch die Reflektionen des Vaters und seinen vorausschauenden Umgang mit dem Thema bekommt die Text-Collage manchmal gar eine poetische Note. Der Clou der Aufführung aber ist: Auf der Bühne wird kaum gesprochen. Es gibt Stimmen aus dem Off; vor allem aber wird der Text auf einen durchsichtigen Gazevorhang projiziert, hinter dem oftmals Videos auftauchen. In der Publikumsdiskussion im Anschluss an das Gastspiel bei den Mülheimer Theatertagen schlägt Helgard Haug als Genre-Bezeichnung den Begriff „Lesetheater“ vor. Sprache, Buchstaben sind ein wesentlicher Teil des Bühnenbildes. Als der Vater erstmals seine Demenz erkennt, als später seine Verwirrungen zunehmen, verschwindet der auf den Vorhang projizierte Text an seinen rechten Seitenrändern oder es gibt doppelte Projektionen, so dass die Buchstaben verschwimmen und das Lesen erschwert wird: Der Zustand des Vaters wird vorübergehend in der Schrift gespiegelt. Als Außenstehender ist man dann stärker gefordert – so wie die Angehörigen in der Kommunikation mit dem Demenzkranken.

Mit dem Begriff „Lesetheater“ hat Helgard Haug dennoch deutlich zu tief gestapelt. Mindestens ebenso handelt es sich um Musiktheater. Tatsächlich ist erwiesen, dass Demenzkranke durch Musik wieder an verschüttete Areale ihres Gehirns gelangen können. Das Zafraan Ensemble kommentiert und illustriert das Geschehen nahezu pausenlos mit einer musikalischen Komposition der Elektropop-Musikerin Barbara Morgenstern und übernimmt eine für die Kommunikation der geschilderten Ereignisse prägende, der Sprache mindestens gleichwertige Rolle. Morgenstern hat zum ersten Mal Musik für ein klassisches Orchester geschrieben. Diese spiegelt sowohl das emotionale Geschehen rund um das Flugzeugunglück als auch den Zustand des Gehirns des Kranken. Sie macht Dramatik, Trauer, Unausweichlichkeit deutlich. Wechselt die Musik anfangs noch von Spannung zu Entspannung, so wird sie umso lauter und dissonanter, je größer die Unordnung im Kopf des Vaters wird. Sie löst sich nach und nach von klassischen Strukturen; die musikalische Architektur, ihre Konstruktion wird brüchig. Dominierte anfangs noch das Lese-Erlebnis und damit die Sprache, so übernimmt schließlich die Musik die Führung der Aufführung.

Das Wort „Würde“ flimmert einmal in großen Buchstaben über den Gazevorhang. Wenn der Vater je im Verlauf seiner Krankheit seine Würde verloren haben sollte, so hat Helgard Haug sie ihm mit dieser Aufführung zurückgegeben. Denn das ungewöhnliche, experimentelle Stück Lese-, Sprach- und Musiktheater ist auch eine liebe- und respektvolle Hommage an den Vater. Vielleicht ist die zweieinhalbstündige Aufführung um eine halbe Stunde zu lang. Man hätte kürzen können - zum Beispiel bei der ausführlichen Schilderung der Verschwörungstheorien um den Absturz des Flugzeugs. Andererseits: Sie zu verschweigen, wäre auch nicht korrekt gewesen, denn bis heute weiß niemand, wie eine ausgewachsene Boeing stundenlang unter oder neben den Radarschirmen herfliegen konnte. Und Verschwörungstheorien – auch das wird einmal, wenn auch nur kurz - angesprochen, entstehen auch im Kopf des Vaters. Auch sie sind ein regelmäßiger Begleiter dieser Krankheit.