Übrigens …

Berlin Alexanderplatz im Bielefeld, Stadttheater

Der freie Fall des Franz B.

Da ist er also wieder: Franz Biberkopf, der Anti-Held aus Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Aus dem Gefängnis entlassen, will er jetzt ein anständiges Leben führen und scheitert total. Wie oft war Biberkopfs Leben schon Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung? Sicher ungezählte Male. Mir als älterem Menschen hat sich die Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder mit dem grandiosen Günter Lamprecht tief eingebrannt, die 1980 ausgestrahlt wurde. Im Jahr 2020 erzählt Burhan Qurbani die Geschichte eines illegalen afrikanischen Immigranten und orientiert sich an Döblin.

Im Theater Bielefeld hat nun eine neue Sicht auf die Aktualität des Döblinschen Stoffes Premiere. Als spartenübergreifendes Projekt (Musiktheater, Schauspiel, Tanz) wird die Sicht von Vivan und Ketan Bhatti auf das Leben des Franz Biberkopf uraufgeführt. Dabei nehmen sie in ihrer Oper nicht Franz‘ Scheitern an den puren materiellen Gegebenheiten in den Fokus, sondern den Einfluss des ungezügelten Großstadtlebens auf dessen Psyche. Gemeinsam mit ihrer Librettistin Christiane Neudecker entwickeln die komponierenden Bhatti-Brüder eine Folge von Szenen und beschreiben den psychischen Abstieg des Franz B.

Deshalb ist es nur folgerichtig, dass ein Psychiater Franz‘ Lebensschritte kommentierend begleitet. Er erkennt die „Macken“ im Hirn von Biberkopf, die sich in der Szenenfolge stetig neu manifestieren und verfestigen. Da ist sein Verhältnis zu Frauen, das von Angst geprägt ist. Er hat seine Ex-Geliebte erschlagen. Diese Tat verfolgt ihn in seinen Träumen. Deshalb kann er kein neues Liebesverhältnis aufbauen, obwohl er das mit Mieze gerne möchte. Als Schutzmechanismus gegen tiefe Gefühle behandelt er Frauen als pure Lustobjekte.

In einer Szene im Schlachthof, der ihm Arbeit geben soll, erlebt er intensives Grauen, fühlt sich selbst als Objekt einer grausamen, blutigen Schlachtung und kann den Job nicht ausüben. Das geht ihm genauso als Mitglied einer Diebesbande. Diese Rolle widerstrebt seinem Wunsch nach einem „anständigen Leben“. Der Schlag, den er auf den Kopf erhält, dient ihm als Ausstiegsszenario, auch wenn er dadurch den Verlust eines Armes beklagen muss.

Erst nach einem „Relaunch“ in einer Nervenklinik kann Biberkopf wieder auf den Großstadtdschungel losgelassen werden. Er hat gelernt, Dinge und schreckliche Erinnerungen einfach auszublenden.

Regisseur Wolfgang Nägele entwickelt eine spannende Szenenfolge, die vielleicht ein wenig kürzer hätte ausfallen können. Aber Nägele hat ein feines Gespür für Figurenkonstellationen, die er perfekt ins Publikum zu tragen in der Lage ist. Dabei unterstützt ihn ein großartig im Team arbeitendes Ensemble hervorragend. Herausragend Evgueniy Alexiev, der die seelischen Leiden Franz Biberkopfs mit einer stupenden Intensität zum Ausdruck zu bringen vermag. Er meistert diese mörderische Partie bravourös und extrapoliert die seelischen Qualen, rückt sie gar in die Nähe von Christus.

Die Bhatti-Brüder untermauern die Seelenqualen Biberkopfs mit lärmenden Großstadt-Beats. Zugleich illustrieren sie mit Anklängen an Musik der 1920er Jahre die Bedeutung Berlins als kulturelles Zentrum. Aber auch leise Töne haben sie drauf: wenn Franz sich in Alkohol ertränkt und von der großen Liebe träumt.

Anne Hinrichsen, seit August 2020 Studienleiterin und Kapellmeisterin am Theater Bielefeld, leitet mit großer innerer Spannung die Bielefelder Philharmoniker. Da fliegen förmlich die Funken zwischen Orchestergraben und Bühne. Eine überragende Leistung.

Vivan und Ketan Bhatti erschaffen einen spartenübergreifenden Abend voller Energie. Der fordert sämtliche Ensemblemitglieder, die alle bis in die Haarspitzen motiviert sind.