Übrigens …

Cabaret im Dortmund, Oper

Tanz auf dem Vulkan mit leisen Zwischentönen

Es ist ganz einfach wunderbar, zum Beginn einer neuen Theatersaison eine ganz rundum gelungene Inszenierung zu erleben: Da wird dann wieder klar, warum man das Theater liebt und das Live-Erleben einfach unvergleichlich ist. Gil Mehmert ist mit Cabaret am Theater Dortmund ein Abend gelungen, der dafür sorgen dürfte, dass sich die teils großen Lücken in den Reihen unserer Theater allmählich wieder schließen sollten.

Mehmert spürt tief hinein in John Kanders Musical, bringt alle Facetten der Handlung auf die Bühne und kratzt so am Lack der polierten Oberfläche. Grelles Tingeltangel mit ein paar Nazi-Schreckensbildern ist seine Sache nicht. Vielmehr lotet er die Charaktere seiner Protagonisten fein aus und schildert so das diverse Verhalten von Menschen in persönlichen Notsituationen und unter extremem gesellschaftlichen Druck. Das macht Cabaret aktuell und brisant, löst es aus dem historischen Kontext der Handlung, schafft ohne Plattitüden den Bezug zu unserer Welt voller Vorurteile, Rassismus, Fake-News und Shit-Storms.

Heike Meixner schafft dazu die ideale Spielfläche. Auf der Drehbühne befindet sich auf der einen Seite der Kit Kat-Club mit großer, offener Bühne für die große, bunte Show mit eine, tillen, schräg-überdimensionalen Bechstein-Flügel und auf der anderen Seite Fräulein Schneiders Pension mit kleinen Zimmern für zwischenmenschliche Szenen und die Dramen des Alltags. Kostümbildner Falk Bauer kann aus dem Vollen schöpfen: Glitter und Flitter, die den Alltag vergessen machen und einen Rausch des Vergnügens evozieren sollen auf der einen Seite – auf der anderen triste Alltagskleidung für alltagsmüde Menschen. Echte Hingucker sind die androgynen Show-Kostüme und die non-binären Kostüme der Kit Kat Boys.

Die tanzen übrigens hinreißend, wie auch ihre weiblichen Kolleginnen. Melissa King choreografiert überaus abwechslungsreich. Das ist eine Augenweide und fernab von jeder Musical-Einheitskost.

Überhaupt wimmelt die Inszenierung vor kleinen, aber feinen Einfällen, die den Abend so rund machen und keinen Moment der Langeweile aufkommen lassen. Hier sei als Beispiel nur genannt die Verwandlung des anzüglichen Dreiecksbeziehungs-Songs „Two Ladies“ in ein Terzett von Hitler, Mussolini und Stalin, die Europa unter sich aufteilen. Da wird Schlüpfrigkeit zu purem Zynismus!

Mehmerts Regiekonzept wäre nicht umzusetzen gewesen ohne dieses wirklich fantastisch singende und vor allem auch spielende Ensemble. Samuel Türksoy verwandelt sich als Ernst Ludwig von einem scheinbar polyglotten Weltbürger in einen eisenharten Nazi und Maja Dickmann singt als plötzlich „germanisierte“ Prostituierte Fräulein Kost mit ebenso klarer wie eisstarrender Stimme „Der morgige Tag ist mein“. Und Rob Pelzer als Conférencier ist der advocatus diaboli schlechthin.

Vor allem aber sind es die Protagonist*innen, die weitab von Rollenklischees Charaktere gestalten zu vermögen. Da ist der jüdische Obsthändler Herr Schultz, der sich ein spätes Glück erhofft und am Ende von den Nazis verschleppt wird.Tom Zahner legt ebenso viel Zärtlichkeit wie Schüchternheit in seine Werbung um die Pensionswirtin Fräulein Schneider. Das ist zutiefst anrührend. Fast stoisch geht er mit der Zerstörung seiner aufkeimenden Hoffnung um und ergibt sich fatalistisch-berührend in sein Schicksal.

Cornelia Drese ist zunächst ganz die taffe Pensionswirtin, offenbart dann aber die zarten Seiten ihres Charakters, wie auch ihre tiefe Müdigkeit und Abgekämpftheit. Sie opfert ihre Beziehung mit Herrn Schultz zugunsten eines einsamen Lebens im Arrangement mit der Nazi-Herrschaft. Drese ist dabei enorm leise wie pointiert.

Jörn-Felix Alt ist ein zu Beginn naiver Clifford Bradshaw, der sich ebenso impulsiv ins Berliner Nachtleben stürzt wie in seine amour fou mit Sally Bowles, dann aber Schritt für Schritt die heraufziehenden Gefahren wahrnimmt und weiß, dass er weg muss aus dieser Stadt, diesem Sumpf. Dafür ist er bereit, seine Liebe zu Sally aufzugeben.

Bettina Mönch ist eine Sally von großer Bühnenpräsenz, die ihren großen Auftritt hat mit „Maybe Sometimes“. Hier vereint Mönch raumgreifend Hoffnung und gleichzeitige Resignation derart prägnant, dass an der Folgerichtigkeit ihren späteren Tuns keine Zweifel bleiben: Sie lässt Clifford ziehen und wirft sich wieder in die Reste der „Roaring Twenties“ um zu vergessen und sich zu betäuben. Für diesen Song gibt es minutenlangen Applaus.

Damian Omansen leitet die Dortmunder Philharmoniker in einer reduzierten Orchesterfassung, die Club-Atmosphäre gestaltet und auch mal „schräge“ Töne zulässt – ein idealer Sound zum Bühnengeschehen. Wahrhaft eine Inszenierung, die einen Besuch im Dortmunder Opernhaus lohnt.