Romantik versus Realität
Senta flieht aus der Realität in eine Scheinwelt. Von Kindheit an schaut sie immer wieder einen Film: „Der fliegende Holländer“. Immer stärker gerät sie in den Sog dieser mythischen Gestalt, fühlt sich magisch angezogen von dessen Einsamkeit und verzweifelter Suche nach Erlösung. Darüber kann sie die triste, lärmende Wirklichkeit ausblenden, sich purer, ungestörter Romantik hingeben und in ihr schwelgen.
Als Sehnsuchtsziel erleben wir einen Kinosaal, auf dessen Leinwand eben dieser „Fliegende Holländer“ flimmert. Im Laufe der Jahre wird der Saal für Senta zu einem Tempel, dessen Atmosphäre sie immer rabiater gegen andere Besucher verteidigt, die sich nicht andächtig dem Film widmen. Auch gegen Versuche von Teenie-Kinoknutscherei ist sie gefeit. Fast manisch fixiert sie ihre Blicke auf den Holländer, nimmt um sich herum nichts anderes wahr, baut sich einen Schutzschild. Vasily Barkhatov und sein Team schaffen so auf der Bühne des Duisburger Theaters einen magischen Ort, an dem Raum und Zeit aufgelöst werden und zu fließen beginnen.
Doch dann wird die Leinwand dunkel und die schäbige Realität schwappt in Sentas Welt: Vater Daland hat den Schauspieler des Holländer engagiert, um die Tochter von ihrer „Besessenheit“ zu heilen. Folgerichtig platzt die Seifenblase und wir befinden uns in einer lärmenden Stadt, in der Handy-fixierte Mütter ihren Nachwuchs auf Spielplätzen hüten und wo vor einer Kebab-Bude an Plastiktischen Fast Food verzehrt wird. Mittendrin eine Horde von Fußballfans mit Wikinger-Kopfbekleidung und rot-weißen Schals, die lärmend der Übertragung eines Spiels auf einer Riesenleinwand beobachten.
In diesem Tohuwabohu begegnet Senta „ihrem“ Holländer. Während sie - nicht frei von zwanghaftem Verhalten - versucht, ekstatische Glücksmomente heraufzubeschwören, versucht er, seine Rolle mit Alltagsklamotten unterm Seefahrerpelz zu einem raschen Ende zu bringen. Barkhatov wählt klug den szenischen Gegensatz und spitzt am Ende die Frage zu: Welchen Stellenwert, welchen Platz hat Romantik in unserer Gegenwart. Ist sie überhaupt noch legitim oder ein völlig sinnfreies Verlangen nach der „blauen Blume“?
So bleibt dann folgerichtig Sentas Schicksal offen: Wird sie sich der Realität stellen, an ihr zugrunde gehen oder sich mutig wieder eine „Gegenwelt“ aufbauen?
Musikalisch gerät dieser Fliegende Holländer zu einem Triumph für die Duisburger Philharmoniker unter Patrick Lange. Von Beginn an ist die vibrierende Anspannung zu spüren, die über dem Orchester liegt. Gemeinsam mit Lange malt es zupackend Stimmungen, lässt sie ineinander fließen und schafft so eine große, homogene, urgewaltige Klanglandschaft. Und beantwortet die von Regisseur Barkhatov gestellte Frage aus dem Graben heraus: Ja, die Romantik ist nicht tot, sondern entfacht ihren Sog wie eh‘ und je.
Derart animiert vom Orchester getragen, hört man auch vom Ensemble ganz viel Feines. Der Chor der Deutschen Oper am Rhein lässt auch in wildem Bühnentrubel keinen Moment seiner Szenen untergehen. David Fischers Steuermann ist geprägt von viel jugendlicher Frische. Ihm liegen auch die burschikosen Elemente der Partie. Susan Maclean ist eine vitale Mary, die es faustdick hinter den Ohren hat. Und Norbert Ernst legt als Erik viel schmachtenden Schmelz und ebensoviel tiefe Enttäuschung in seine Stimme, ohne dabei auch nur einen Moment weinerlich daher zu kommen.
Hans-Peter Königs Daland ist hier weniger der geldgeile Kaufmann. Vielmehr ist er motiviert von der Sorge um die Tochter. Das teilt König gerade mit vielen leise-balsamischen Tönen hervorragend mit. Raumgreifend ist er: James Rutherford als Holländer. Das Faszinierende an diesem Abend jedoch ist, wie Rutherford es vermag, nicht nur markig-unheilvoll zu erscheinen, sondern auch die Unsicherheit dessen zu verbreiten, der seine Rolle nur spielt. Und Senta: Gabriela Scherer lässt sofort keinen Zweifel daran, dass ihr Verhalten völlig natürlich ist und „die Anderen“ sich eher merkwürdig benehmen. Das untermauert sie mit klarer Diktion, ungeschützt offenbarten Gefühlen und mit großer Kraft, die von Unbeirrbarkeit zeugt.
Vasily Barkhatov offeriert einen Holländer, der Fragen stellt, statt Antworten zu liefern und wird dabei mit Vehemenz von Ensemble und Orchester unterstützt. Das wird vom Publikum begeistert aufgenommen. Ob das allerdings in Duisburg auch für die rot-weißen Fan-Schals auf der Bühne gilt, sei mal dahin gestellt...