Tannhäuser im Essen, Aalto-Theater

Abenteuer Antike

Dieses Wandgemälde gleicht einem Who’s Who der Antike. Insgesamt 58 Personen verewigte der Maler Raffael in seinem weltberühmten Fresko „Die Schule von Athen“, mit dem er im Jahr 1510 einen päpstlichen Privatraum im Vatikan ausschmückte. Es vereint die genialen Köpfe der klassischen Philosophie und Wissenschaft: Platon und Aristoteles, Sokrates und Diogenes, Heraklit und Epikur, mutmaßlich auch Pythagoras und Ptolemäus.

Im Essener Aalto-Theater steht dieses Fresko jetzt im Zentrum einer Neuinszenierung von Richard Wagners Oper Tannhäuser. Mit seinem Versuch, die Geister der Antike und des Christentums in Einklang zu bringen, wird das Bild wegweisend für das Produktionsteam um Paul-Georg Dittrich. Der in Hamburg ausgebildete Regisseur, der bereits zweimal für den Theaterpreis „Der Faust“ nominiert war, plädiert für Inszenierungsformate, die keine Kennerschaft voraussetzen. Diese nennt er zeitgemäß. Gerne setzt er audiovisuelle Medien ein, um einen Opernabend zum „anschlussfähigen Erlebnis“ zu machen.

So auch in Essen, wo ein riesenhafter Torso der Venus von Milo zunächst zur Leinwand wird. Während Tannhäuser sich im Vordergrund aus den Fängen der Liebesgöttin zu befreien versucht, flimmern Videosequenzen aus dem Medizinlabor über die Attrappe des weiblichen Körpers. Mit Bildern von künstlicher Befruchtung und Klontechnik reißt Dittrich das Spannungsfeld auf, das Tannhäuser ins Verderben stürzt: göttliche Liebe einerseits, samt verführerischer Erotik, geordnete irdische Hierarchien andererseits, inklusive der Errungenschaften von Geist und Fortschritt.

Dittrich und sein Produktionsteam zwingen Tannhäuser keine (fremde) Geschichte auf. Dem Bewusstseinsstrom entsprechend, den Wagner mit der Rom-Erzählung in Gang bringt, reihen sie mit optischen Mitteln Motivfetzen aneinander, unter Preisgabe formaler Klammern. Wer will, kann sich zum freien Spiel der Assoziationen seine Gedanken machen – oder auch nicht. Dass mancher sich womöglich einfach zurücklehnt und von der Bilderflut berieseln lässt, nimmt die Regie billigend in Kauf.

Weit weniger als zum Setting fällt ihr zur Personenführung ein. Es ist des Händeringens und Oberkörperkrümmens viel in den viereinhalb Stunden, in denen Tannhäuser sein Seelenheil sucht. Im starken zweiten Aufzug wird die „heilige Halle“ zur sakralen Kapelle. Die Gleichsetzung von Elisabeth mit der Jungfrau Maria gehört in den meisten Tannhäuser-Inszenierungen inzwischen zum Allgemeingut. Aber der Skandal beim Sänger-Wettstreit wird sehr glaubhaft in Szene gesetzt, ausgelöst durch einen Protagonisten, der sich weder durch Regeln noch Anstand gebunden fühlt.

Rat- und kraftlos fällt dagegen der Schlussakt aus, bei dem die Akteure, ausweislich der Kostüme in die Gegenwart katapultiert, wie betäubt auf einer Bank sitzen. Mag bis zur Rückkehr der Pilger auch Überraschendes geschehen, so wirkt dies unvermittelt, ja fast unfreiwillig komisch. Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Die Büßer sind zwar nicht zu sehen, füllen vom Balkon herab aber den Raum mit ihren Stimmen. Chor- und Extrachor des Aalto-Theaters tragen den Abend zuverlässig mit weihevollen Gesängen, die zunächst oft aus der Ferne erklingen, später aber zu voller Kraft aufblühen.

Wer musikalisch auf Zauberwelten, Festklänge und sakrale Sphären hofft, wird aufs Schönste bedient. Die Geigen der Essener Philharmoniker lassen die Venusberg-Musik flirren und schwirren, die Blechbläser gießen tiefe Glut in die Choräle, und die Jubelklänge der „heiligen Halle“ steigern sich vom Überschwang bis zur Opulenz. Dass die Fanfaren der Trompeten nicht absolut punktgenau von den Balkonen losschmettern, geht wohl auf das Konto des räumlichen Abstands. Viel wichtiger ist, dass Dirigent Tomáš Netopil die Partitur – er benutzt weitgehend die frühe Dresdner Fassung – mit psychologischem Geschick durchleuchtet. Was auch immer die Figuren innerlich bewegt, tönt deutlich aus dem Orchestergraben.

Auch sängerisch macht dieser Tannhäuser viel Freude. Endlich einmal erlebt man eine exzellent besetzte Venus: Deirdre Angenent kennt flammende Mezzo-Tiefen, aber auch lyrischen Verführerinnenklang und dramatische Attacke. Astrid Kesslers Sopran bildet dazu einen wirkungsvoll hellen, schlanken Kontrast. Ihre Elisabeth jubelt in mädchenhafter Schwärmerei los, steigert sich aber zu stählerner Entschlossenheit, wenn sie Tannhäuser gegen seine wütenden Kontrahenten verteidigt. Im dritten Aufzug treten wundervolle Farben der Resignation hinzu.

Staunenswert ist auf den Bariton Heiko Trinsinger Verlass, nach nunmehr 23 Jahren im Aalto-Ensemble. Er wirkt als Wolfram von Eschenbach wie der Fels in der Brandung, intoniert seine Ballade an den Abendstern balsamisch und wohlklingend. Unter dem Wartburgpersonal ist kein Ausfall zu verzeichnen: Walther von der Vogelweide (Mathias Frey), Biterolf (Andrei Nicoara), Heinrich der Schreiber (Raphael Wittmer), Reinmar von Zweter (Bart Driessen) und der Landgraf von Thüringen (Albert Pesendorfer) erfüllen ihre Rollen mit Hingabe. Als junger Hirt springt Mercy Malieloa mit Engelsflügeln durch die Szene, als sei sie ein kleiner Cherub.

Daniel Johansson gibt dem Titelhelden den angemessenen emotionalen Überdruck. Gestählt durch Partien wie Siegmund, Lohengrin und Hoffmann, hält er auch diese Hauptrolle ohne nennenswerte Schwierigkeiten durch. Sein Tenor ist über weite Strecken heldisch hell timbriert, kann aber auch in Verzweiflungstöne kippen. Die klingen mal gallig, mal reuevoll zerknirscht. Zwar verschluckt der Schwede manches Endungs-S, meistert in der Rom-Erzählung aber sowohl ein tragfähiges Piano als auch die Schmerzensausbrüche. Nach dieser Eröffnungspremiere im Aalto-Theater wird der Tenor an das Theater Genf zurückkehren, wo er erstmals den Parsifal singt.