Übrigens …

Ambleto im Theater Gütersloh

Barock trifft Gegenwart

Dem Publikum im venezianischen Karneval des Jahres 1705 musste der Stoff denkbar exotisch vorkommen. Was da über die Bühne des Teatro San Cassiano ging, war der dänischen Königschronik aus dem 12. Jahrhundert entnommen. Eben jener Quelle, derer sich auch Shakespeare für seinen Hamlet bedient hatte. Ambleto freilich geht davon unabhängig völlig eigene Wege. Das Sujet bot dem Librettistengespann aus Apostolo Zeno und Pietro Parati Gelegenheit, einmal nicht mythologische Opernstoffe zu traktieren, sondern – jedenfalls nach ihrem Verständnis – geschichtliche Realität. Während das Libretto in einem offensichtlich im Zusammenhang mit einer Londoner Aufführung des Jahres 1712 veröffentlichten Druck vollständig vorliegt, ist Gasparinis Musik lediglich in einem wohl auch im gleichen Kontext erschienenen Arienbuch mit einigen dürftigen Hinweisen zur Instrumentation überliefert. Im Gegensatz zur Shakespeare-Tragödie kommt der Titelfigur kaum mehr als eine Katalysatorfunktion zu, dies vor allem für Ambletos Geliebte, die von den Dänen besiegte Prinzessin Veremonda und seinen Stiefvater, den Dänenkönig Fengone. Die männlichen Umtriebe zu ihrer machtpolitischen und sexuellen Instrumentalisierung widern die Prinzessin an. Veremonda unternimmt, was immer ihr möglich ist, um solche Machenschaften zu vereiteln. Weil auch Hamlet sein Spiel mit ihr treibt, avanciert er zwar final zum König, muss aber von Veremonda verlassen allein auf der Bühne zurückbleiben. Zentralfigur der Oper ist König Fengone. Allererst benutzt der Dänenkönig das Herrscheramt dazu, seinen erotischen Begierden ungezügelt Lauf zu lassen. Fengone greift sich die Frau, nach der ihn gerade gelüstet. Da aber Affektsublimation die Hohe Schule ist, die jeder barocke Höfling und erst recht jeder Monarch erfolgreich zu absolvieren hat, muss der triebgesteuerte Dänenherrscher scheitern. Froh darf er sein, wenn der siegreiche Ambleto ihn final nicht dem Henker übergibt, sondern zu lebenslänglicher Kerkerhaft begnadigt.

So stofflich und durch Gasparinis abwechselnd solemne und emotional aufgewühlte Komposition bemerkenswert das Fragment auch ist, zur Bühnentauglichkeit bedarf es der Ergänzung und Vervollständigung. Beherzt nimmt sich der Hamburger Tonsetzer Fredrik Schwenk der Herausforderung an. Schwenk fügt dem unter anderem mit Blockflöten, Naturtrompeten, Theorbe und Cembalo besetzten Barockorchester einen Schlagzeugapparat und elektronische Klänge hinzu, um den Affektgehalt von Gasparinis Musik gleichermaßen auf die Spitze zu treiben und bisweilen zu ironisieren. Da verwundert es nicht, wenn königliche Familie und Dänemarks Große auf dem Hofball Rumba tanzen. Die fließenden Übergänge barocker Melodik in heutige, zudem die partielle Umformulierung barocker Ariendominanz in Ensembleszenen lassen fasziniert aufhorchen. Zwar sind die Vokalpartien, wie es sich für eine Barockoper gehört, koloraturgespickt, aber keineswegs sängermörderisch.

Kompositorisch kommt die Synthese aus Gasparini und Schwenk bezwingend fetzig daher. Die Hildesheimer wissen dies musikalisch überzeugend umzusetzen. Der Chor des „Theater für Niedersachsen“ unter Achim Falkenhausen nimmt sich seiner Aufgabe mit kristalliner Klarheit und bildschöner Tongebung an. Florian Ziemen bewegt das Orchester des Hauses zum vortrefflichen Ineins von Barock und Heute. Wie das Instrumentarium, das Gasparini zur Verfügung stand und Schwenks Perkussion und Elektronik miteinander korrespondieren, führt zu überraschenden und immer neuen Hörerlebnissen. Felix Mischitz in der Titelpartie bleibt vokal eher blass. Yohan Kim gibt Fengone als den tenoralen Potenzprotz und brutal seine Begierden auslebenden Monarchen, der er sein soll. Kim steht den stimmlichen Kraftakt unangestrengt durch. In Leid und Selbstbehauptung nimmt Sonja Isabel Reuters männliche Rankünen abwehrende Veremonda für sich ein. Reuters Sopran zeichnen Leuchtkraft und stilsichere sangliche Linie bis hin zur vokalen Attacke aus. Neele Kramer verleiht der permanenten emotionalen Überforderung der Dänenkönigin Gerilda ebenso raumgreifenden wie koloraturgewandten Ausdruck. Das schlechte Gewissen, zudem die Forderungen, mit denen sie Gemahl und Sohn bedrängen und nicht zuletzt des Königs Frauengeschichten setzen Gerildas Seele beständig unter Hochdruck. Auch alle weiteren Partien sind angemessen besetzt.

Bedenklich stimmt die szenische Seite der Produktion. Regisseurin Amy Stebbins sagt im Programmheft, sie sei „ganz aus dem Bauchgefühl“ zu Werk gegangen, um „was ich übrigens selten mache“ zu ergänzen. Keine ratsame Idee, sich auf das „Bauchgefühl“ zu verlassen. Zwar arbeitet Stebbins die Figurenkonstellationen hinreichend deutlich heraus, doch herrscht auf der Bühne Verspanntheit bis hin zu offensichtlicher Unbeholfenheit. Die Personage steht dann beliebig verteilt im Raum. Zu allem Überfluss verfällt Stebbins auf jenen abgeschmackten Einfall, mit dem sich die Spielleitenden barocker Opern noch stets aus der Affäre zu ziehen suchen, wenn sie von den Bühnenkabalen überfordert werden. Die Rankünen gleiten in Klamauk ab. Stebbins stellt sich nicht bloß durch inflationäre Türbenutzung in diese Tradition. Vielmehr auch dann, wenn sie die Spielenden in Schränke bugsiert. Die Möbel fahren aus einer von Anna Siegrot errichteten Wand komplett aus Türen. Ein Wall, der in seiner Düsternis mindestens die Ahnung weckt, dass er zu mehr taugt als zur Klamotte.

Wie immer dem sei, die Hildesheimer warten mit einer musikalisch faszinierenden Synthese aus Barock und Heute auf, die sich unbedingt für Nachfolgeproduktionen empfiehlt. Das Theater Gütersloh beweist Mut, seinem Publikum das Amalgam aus operngeschichtlicherRarität und gleichzeitiger Novität zu präsentieren.

 

 

P.S. „Ambleto“ ist Teil einer vom Hildesheimer „Theater für Niedersachsen“ produzierten Hamlet-Trilogie. Sie umfasst neben Gasparinis Oper auch die Shakespeare-Tragödie sowie einen Hamlet-Tanzabend. Konstante der Trilogie ist Anna Siegrots Wand aus Türen.