Dear World im Bielefeld, Stadttheater

Broadway-Optimismus

Gräfin Aurelia ist Dollys und Mames Schwester. Keine Frage, die Zentralfigur von Dear World ist eine typische Jerry-Herman Frau. Das Herz trägt sie auf dem richtigen Fleck, couragiert nimmt sie das Heft des Handelns in die Hand. Unerschütterlich ist sie nicht, doch bietet sie dem Unglück die Stirn. Und wie Dolly verfügt sie mit dem Titelsong über einen Ohrwurm-Showstopper. Freilich reicht Aurelia, die niemand andere ist als Jean Giraudoux‘ ins Musical transferierte „Irre von Chaillot“, nicht ganz an ihre „Schwestern“ heran. Eine Frau, die Bösewichte so nonchalant wie die Gräfin in den Hades unterhalb der Pariser Kanalisation schickt, bedürfte hierfür einer filigraneren kompositorischen Handschrift als der Jerry Hermans. Sei dem, wie ihm wolle. Diejenigen, die unverwüstlichen Optimismus samt erträglich sentimentalem Einschlag schätzen, sind bei diesem Musical an der vollkommen richtigen Adresse. Die Bielefelder geben es in der vom Komponisten ursprünglich intendierten Kammerspielfassung, verzichten also auf die aus kommerziellen Gründen zur Uraufführung im Jahr 1969 um Chor und Ballett erweiterte Version. Eigens für die Produktion in der ostwestfälischen Kapitale fertigten die mit der Gräfin besetzte Frederike Haas und Melanie Haupt eine gut sangbare und durch spitzzüngige Dialoge Pointen zündende Neuübersetzung an. Regisseur Thomas Winter beweist Sinn für Atmosphäre und Humor des Stücks. Märchen und eine zur Freundlichkeit der Welt hin verschobene Wirklichkeitswahrnehmung reichen sich die Hand. Die Figuren agieren zugleich bodenständig und doch wie in einer Umgebung, die einfach zu gut ist, um gänzlich wahr zu sein, eben im Bilderbuch-Paris eines den Menschen wohlgesonnenen Surrealisten. Jene Widerlinge, die das urbane Paradies an der Seine um des schnöden Mammons willen in die Luft zu sprengen trachten, schickt Winter in den Orkus wie ein unartiges Kind in den Stubenarrest. Auch der Bühnenbild und Kostüme verantwortende Toto verschreibt sich ganz der Atmosphäre. Dennoch weckt das komplett gekachelte Café, das er auf die Bühne stellt, nicht allein Assoziationen mit Paris, sondern mindestens ebenso sehr mit einer stadtbekannten Gastronomie in historischen Räumen im Bielefelder Zentrum. Aurelia sowie ihre Freundinnen Gabrielle und Constance bevorzugen aufwendige Roben vom Flohmarkt aus mindestens zweiter Hand.

Auch musikalisch nimmt die Produktion für sich ein. Am Pult der Bielefelder Philharmoniker lässt William Ward Murta satten Broadwaysound aus dem Graben steigen. Bei Frederike Haas schimmert aus der ebenso liebenswerten wie beherzten Aurelia immer wieder luzider Wahnsinn hervor. Der macht die Figur desto sympathischer. Carlos Horacio Rivas und Cornelie Isenbürger geben der Gräfin Freundinnen Gabrielle und Constance als gewinnend meschugge Wuchtbrummen und Knallbonbons. Im Verein mit Jens Janke und Alexander von Hugo karikiert Isenbürger zudem die drei erzkapitalistischen Heuschrecken im Schmuck ihrer Präsidententitel als die Schießbudenfiguren, die sie zu sein verdienen. Dirk Weller gibt den dem Ansinnen der Gräfin zugetanen und es befördernden Abwasserkanal-Mann, der den Zustand einer Gesellschaft anhand des von ihr produzierten Mülls diagnostiziert.

Die besuchte Vorstellung stand vor der Pause beleuchtungstechnisch unter keinem guten Stern. Während der Ouvertüre erloschen die Lichter im Graben. Ebenso verschwand das zunächst auf den Vorhang projizierte Café. Dirigent William Ward Murta musste abklopfen. Als sich eine ganze Weile nichts tat, wandte sich der verdiente Musicalkomponist und vielerfahrene Spartenkapellmeister mit den Worten ans Publikum, dies sei ihm in seinen achtunddreißig Bielefelder Jahren bislang nicht widerfahren. Dann gab er den Einsatz zum Neustart. Aber auch weiterhin flößten die wiederholt flackernden Scheinwerfer wenig Vertrauen ein. Nach der Pause war das Malheur behoben.