Leave your troubles outside
The Roaring Twenties, die Goldenen Zwanziger Jahre in Berlin, sie begannen nach dem Krisenjahr 1923 und endeten mit dem Schwarzen Freitag an der New Yorker Börse am 23. Oktober 1929. Berlin übte eine magische Anziehungskraft auf Kunst, Literatur, Bühne, Film, Musik und Tanz aus und wurde zu einem kulturellen Fokus in Europa. Die Unterhaltungs- und Vergnügungsindustrie boomte. Eine Statistik von 1927 gibt Auskunft über 49 Theater, drei Opernhäuser, 75 Kabaretts und Kleinkunstbühnen. Die Zeitschrift Die Bühne kommentiert: „In Berlin ist die Revue-Freude auf dem Gipfel. Von diesem kann es keine Steigerung mehr geben, nur noch Dekadenz.“ Zu dieser Zeit spielen in Berlin Christopher Isherwoods Romane Mr Morris steigt um und Leb wohl, Berlin und bilden die literarische Vorlage für John van Drutens erfolgreiches Theaterstück Ich bin eine Kamera, das 1951 in New York aufgeführt wurde. John Kander und Fred Ebb schufen danach das Musical Cabaret, das 1966 am Broadway auf die Bühne kam. Mit acht Preisen wurde Cabaret sowohl in New York wie auch in London das Musical des Jahres. Bis heute ist Cabaret in der Verfilmung mit Liza Minelli (1972) ein unübertroffener Welterfolg.
Die Geschichte zum Musical: Der amerikanische Schriftsteller Cliff Bradshaw kommt nach Berlin, um einen Roman zu schreiben. Im Zug macht er die Bekanntschaft von Ernst Ludwig, einem Nationalsozialisten. Silvester 1929 lernt er im Kit-Kat-Club die englische Nachtclubsängerin Sally Bowles kennen. Beide verlieben sich ineinander. Bald darauf verliert Sally ihren Job und zieht bei Cliff ein. Als sie ihm eröffnet, dass sie schwanger ist, beginnt Cliff, trotz seiner Bedenken, für Ernst Ludwig zu arbeiten. Auch zwischen Cliffs Pensionswirtin Fräulein Schneider und dem älteren jüdischen Obsthändler Herrn Schultz entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Auf ihrer Verlobungsfeier singt Herr Schulz ein jiddisches Lied. Ernst Ludwig provoziert darauf einen Eklat. Fräulein Schneider löst trotz ihrer Liebe die Verlobung aus Angst, ihren Gewerbeschein zu verlieren. Sally lässt das Kind abtreiben und folgt Cliff nicht nach Amerika. Das politische Geschehen interessiert sie nicht, ihr Leben ist das Cabaret. Den Traum von einer großen Karriere will sie nicht aufgeben.
André Kaczmarczyk inszenierte Cabaret im Großen Haus. Kaczmarczyk ist seit 2016/17 Mitglied des Düsseldorfer Ensembles. Grandios seine schauspielerischen Leistungen, z.B. in Macbeth. Regie führte er u.a. bei Alice, I build my time und Orlando. Kaczmarczyk kann bei der Inszenierung von Cabaret aus dem Vollen schöpfen. Ein aufwendiges Bühnenbild zeigt Glitzerhalbwelt des Kit-Kat-Clubs, Lack- und Lederkostüme für die Showgirls - und boys sowie aufwendige und aufreizende Kostüme für die Protagonisten der Show und - last but not least - die Kit-Kat-Club-Band, ein recht großes Orchester unter Leitung von Matts Johan Leenders, das mit Verve die Songs, die das Musical prägen, herausstellt und die Gefühlswelten der Handelnden ins Publikum transportiert. Kaczmarczyk gibt perfekt den wendigen, fast immer gegenwärtigen Conférencier, der das Publikum begrüßt: „Willkommen! Bienvenue! Welcome! Ihr Ladies und Gentlemen und alle, die sich dazwischen befinden!“ Lou Strenger begeistert als Sally Bowles. Unschlagbar ihr stimmliches Potential. Auch die Nebenrollen sind treffend besetzt. Sei es das ältliche Fräulein Schneider (Rosa Enskat) oder der sympathische Obsthändler Herr Schultz. Thomas Wittmann spielt und singt ihn anrührend. Claudia Hübbecker ist das selbstbewusste Fräulein Kost, das ihr Zimmer stundenweise nutzt. Belendjwa Peter ist hier der englische Schriftsteller Bradshaw. Schon von der Rolle her kein Draufgänger, aber Belendjwa Peter spielt ihn bisweilen zu zurückgenommen.
Insgesamt aber gelingt den Darstellern der Spagat zwischen der quirligen Halbwelt und den immer stärker werdenden Hinweisen auf den zunehmenden Einfluss der Nationalsozialisten. So lassen einen die vaterländischen Gesänge ahnen, wie sich die politische Wirklichkeit ändert. Wenn eine junge Frau im hellblauen Militärlederoutfit die Hymne „Der morgige Tag“ anstimmt, laufen dem Publikum Schauer über den Rücken. Nicht zuletzt, weil hier der Bezug zu unserer politischen Gegenwart nur zu deutlich ist.
Das Publikum feierte den Abend frenetisch mit Standing Ovations. Zu Recht, wenn man die grandiose Leistung der Darsteller*innen betrachtet.